Jaimie Branch: „Fly or Die Fly or Die Fly or Die“ ((world war)) Peter Füssl · Okt 2023 · CD-Tipp

Im Alter von gerade einmal 39 Jahren verstarb am 22. August 2022 die New Yorker Trompeterin, Sängerin und Komponistin Jaimie Branch, die im Quartett mit dem Bassisten Jason Ajemian, Drummer Chad Taylor und Cellist Lester St. Louis mit den beiden Alben „Fly or Die“ (2017) und „Fly or Die II: Bird Dogs And Paradise“ (2019) einen frischen Wind in die Jazz-Szene gebracht hatte. Das dritte Studioalbum – vier Monate vor ihrem Tod in Omaha/Nebraska aufgenommen und schon fast fertiggestellt – erhielt nun von ihren musikalischen Mitstreitern und ihrer Familie den letzten Feinschliff und präsentiert sie in der Blüte ihrer Schaffenskraft.

Live trat sie immer in Trainingsanzug und Baseball-Cap auf und nicht weniger unkompliziert war ihr Zugang zur Musik, die sie unbeeindruckt von jeglichen Genregrenzen irgendwo zwischen Jazz-Improvisation, Punk, Blues, Independent-Rock und Elektronic anlegte, auch zwischen Ernsthaftigkeit und dem Aufruf zu Kampf und Solidarität und lebenslustiger Partystimmung. Sie studierte am New England Conservatory of Music und an der Towson University Baltimore und war von der avantgardistischen Musikszene Chicagos beeinflusst, wo sie ihre Jugend verbrachte. In der Tat kommt einem angesichts ihres musikalischen Zugangs öfters mal das Art Ensemble of Chicago in den Sinn, man kann aber auch gut verstehen, dass Jaimie Branch Don Cherry, Miles Davis und den deutschen Trompeter Axel Dörner als Einflüsse nannte. Die neun Titel auf „Fly or Die Fly or Die Fly or Die ((world war))“ verblüffen durch ihren außergewöhnlichen Einfallsreichtum und ihre Vielschichtigkeit, vor allem aber bersten sie vor Intensität. „Aurora Rising“ verströmt zum Auftakt mit Elektro-Orgel und donnernden Pauken eine dramatisch-sakrale Stimmung und geht nahtlos in die mitreißenden, tänzerischen Grooves von „Borealis Dancing“ über - mit flammenden Zwiegesprächen von Cello und Trompete und unzähligen Twists and Turns. Branch lässt hot und cool aufeinanderprallen – eines ihrer Erfolgsrezepte. Das von Chad Taylor und Jason Ajemian muskulös vorangetriebene „Burning Grey“ begeistert mit funkensprühenden Trompetentönen, rückt aber auch die gesanglichen Qualitäten von Branch ins Rampenlicht und steigert mit freien Ausbrüchen und Noise-Einsprengseln zusätzlich die Spannung – eine neunminütige Tour de Force. Ein größeres Kontrastprogramm als das darauffolgende, von Ajemian mit kreisenden Basstönen eingeleitete und von Jaimie Branch in lupenreinem Country-Idom gesungene „The Mountain“ kann man sich kaum vorstellen – übrigens ein Cover des dreißig Jahre alten „Comin‘ Down“ der schrägen Post-Grunge-Cowpunk-Band Meat Puppets aus Phoenix, Arizona. Darauf folgt eine neunminütige irgendwo zwischen Lateinamerika und Karibik angesiedelte Tanzparty namens „Baba Louie“, die in der Hälfte unvermittelt in einen psychedelischen, elektronisch aufgezwirbelten (Alb-)Traum-Trip umkippt. Im marschartig groovenden „Bolinko Bass“ duelliert sich Branch mit dem Posaunisten Nick Broste, „And Kuma Walks“ ist eine kurze Gruppen-Impro ins Freitonale. Das vorletzte Stück, „Take Over The World“ überzeugt durch rasanten Punk-Appeal gepaart mit avantgardistischen Spielereien, ehe das Album mit „World War ((Reprise))“ und nachdenklichem Gesang, melancholischen Trompetenklängen, wummernden Orgelwolken und Kinder-Spielzeug-Geklimper seinen Abschluss findet. Jaimie Branch at her best – und das mag etwas heißen!

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Oktober 2023 erschienen.

(International Anthem Recording Company)

Teilen: Facebook · E-Mail