Jacob Karlzon: Winter Stories Peter Füssl · Dez 2024 · CD-Tipp
Mit rund einem Dutzend Alben hat sich der schwedische Pianist Jacob Karlzon längst vom fragwürdigen Esbjörn-Svensson-Nachfolge-Spiel emanzipiert und bewiesen, dass er mit seinem Mix aus Jazz, Pop, Klassik und Electronics einen eigenständigen Weg gefunden hat. Zählen normalerweise hochenergetisches Power-Spiel und mit einer geheimnisvollen Spannung aufgeladene, von einer hypnotisch wirkenden Intensität erfüllte, lyrische Stücke zu seinen Markenzeichen, so geht Karlzon nun mit den „Winter Stories“ einen ganz anderen Weg – vor allem wenn man bedenkt, dass er sich auch schon mit Doom-Metal und Future-Funk auseinandergesetzt hat.
Lange Nächte voller knisternder Kälte, Melancholie und Besinnlichkeit, (vor)weihnachtliche Stimmung ohne Stress und Hektik, aber stets auch ein Gedanke an jene, die sich Weihnachtsstimmung – aus welchen Gründen auch immer – gar nicht erst leisten können. In diesem gedanklichen Umfeld möchte der Mann aus Jonköping seine „Winter Stories“ angesiedelt wissen. Von einem „Weihnachtsalbum“ spricht er nicht, wohl wissend, dass mit diesem Etikett unweigerlich elfeinhalb Monate Schubladendasein verbunden sind. Viel Einschlägiges wurde dennoch in die Rillen gepresst. Etwa zwei alte englische Weihnachtslieder: „The First Noel“, zuletzt vor einem Jahr von Andy Williams mit seinem posthum erschienen „Christmas Album“ in die Charts gebracht, erweist sich in Karlzons Interpretation als wundervolle Melodie, die auch jenseits von Ochs und Esel ihre Wirkung tut. Auch „God Rest Ye Merry Gentlemen“ wurde in den 200o-ern schon unter anderem von den Barenaked Ladies, Annie Lennox oder Hozier aufgenommen, aber niemand hat den Song mit soviel knisternder Spannung gekoppelt wie Karlzon. Die Weihnachtslieder von bei uns weniger bekannten schwedischen Jahrhundertwende-Komponist:innen wie Alice Tegnér, Ruben Liljefors oder Carl Bertil Angestig eignen sich ebenso vorzüglich für winterliche Stimmungsbilder, die hoffnungsfroh die kalte Jahreszeit in all ihrer Schönheit erstrahlen lassen. Auch Franz Xaver Gruber würde sich möglicherweise darüber freuen, zu welch interpretatorischen Raffinessen Jacob Karlzon von seinem Dauerbrenner „Silent Night“ inspiriert wurde. Der Pianist wurde aber auch im Jazz-Revier fündig und ist auf das 1970-er Jahre-Stück „A Child Is Born“ aus der Feder des Trompeters Thad Jones gestoßen, das – mittlerweile von den unterschiedlichsten Künstlern rund 500-mal aufgenommen – in Karlzons Fassung trotzdem neuerlich als Solitär erstrahlt. Wen wundert’s da noch, wie perfekt Taylor Swifts vor vier Jahren veröffentlichte, wundervolle Winter-Ballade „Evermore“ den Reigen dieser dreizehn Songs eröffnet und als ausgewiesener Americana-Hit jede Menge skandinavisches Flair versprüht. Vom einzigen Original des Albums – Jacob Karlzons emotionsgeladener „Winterballad“ – war das ohnehin zu erwarten, aber dass die Kälte in einen derart hypnotischen Rhythmus eingepackt wird, dass sich die Seele zum Tanzen eingeladen fühlt, ist schon etwas Besonderes.
(Warner)
Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Dezember 2024/Jänner 2025 erschienen.