Hollywood bekommt in Götzis Flügel
Das Musiktheater Vorarlberg macht das wenig bekannte Webber-Musical „Sunset Boulevard“ zum Hit.
Fritz Jurmann ·
Okt 2024 · Musik,Theater
Konnte das gutgehen, für das heurige Musicaljahr beim Dreispartentheater mtvo ein bei uns völlig unbekanntes Stück des großen britischen Musical-Giganten Andrew Lloyd Webber zu wählen? Ja, auch das gibt es, aber warum diese Vorarlberger Erstaufführung anstelle seiner vielen gängigen Blockbuster, wie sie hier auch schon zu erleben waren? Doch das goldene Händchen von Intendant Nikolaus Netzer hat sich wieder einmal bewährt und mit großer Sicherheit in diesem Überraschungsei einen absoluten Volltreffer gelandet.
Das Musical „Sunset Boulevard“ erlebte bei der Premiere am Freitag eine ebenso mitreißende wie berührende Inszenierung, wie sie in solch weitgehender Professionalität im Musikalischen, Szenischen und Darstellerischen, auch an Tempo, Witz und Dramatik die Ergebnisse der letzten Jahre beim mtvo deutlich übertroffen hat. Ein großer Tag, ein großer Abend für das von Präsidentin Margit Hinterholzer geführte Musiktheater Vorarlberg, das in der Kulturbühne AmBach vom begeisterten Premierenpublikum mit minutenlangen Standing Ovations für die gesamte Mannschaft reichlich belohnt wurde.
Vergötterte Filmdiva
Bei dem 1993 erschienenen Musical „Sunset Boulevard“ auf der Basis eines Filmklassikers von Billy Wilder aus den Fünfzigern geht es um das Schicksal einer vergötterten Filmdiva, Nora Desmond, die im Herbst ihres Lebens und ihrer Karriere in exzentrischer Herrschsucht nicht wahrhaben will, dass ihre große Zeit in der Metropole Hollywood längst abgelaufen ist. Das Risiko, das Intendant Netzer damit einging, relativiert sich im Nachhinein, indem er mit der ihm bekannten Mezzosopranistin Dora Kutschi gleich auch die ideale Besetzung für die Hauptdarstellerin der Nora Desmond bereithielt. Eine Traumrolle für die seit über zwanzig Jahren erfolgreich als Gesangspädagogin und Solistin am Landeskonservatorium Feldkirch, heute Privathochschule Stella, wirkende, erstmals hier tätige Dora Kutschi, mit deren sängerischer und darstellerischer Überzeugungskraft das Stück steht und fällt. So, als ob diese Rolle für sie konzipiert wäre.
Unglaublich, wie lebensnah sie sich zwischen Starglanz und schriller Überspanntheit exponiert und letztlich dennoch mit ihrem Schicksal so sehr zu berühren weiß, dass das Publikum immer stärkere Sympathie und Mitleid mit dieser Figur empfindet. Dass sich das daraus ergebende Sozialdrama mit einem fein gesponnenen Netz von Erwartungen, Hoffnungen, Verwicklungen und Abstürzen in einem Krimi und einer irrealen Traumwelt unerfüllter Gefühle endet – was wäre, wenn? – ist ein sympathischer und für den Zuseher befriedigender Regieeinfall. Mehr soll dazu vorab nicht verraten werden.
Top-Regisseur vor Ort
Apropos Regie: Intendant Netzer hat mit dem als Spielleiter an der Bayerischen Staatsoper tätigen namhaften Andreas Weirich auch einen absoluten Top-Theaterfachmann für die Umsetzung dieses auch psychologisch komplexen Themas angeheuert, der immer wieder für faustdicke Überraschungen im Szenischen gut ist. Die Handlung von „Sunset Boulevard“ verharrt nicht im trüben Einheitsbrei der Hoffnungslosigkeit, lässt in einer klugen Inszenierung die Beengtheit der Bühne AmBach und der Mittel und Möglichkeiten des mtvo, auch der finanziellen, glatt vergessen. Das Hollywood der Fünfziger Jahre bekommt auf diese Weise in Götzis Flügel und nimmt die Zuseher mit Witz, Gags und überraschenden Einfällen, die weder die Bühne noch das Publikum überfordern, mit auf eine Traumreise in die glitzernde Scheinwelt der flimmernden Bilder, samt einem frechen Blick hinter die Leinwand.
Auf dieser wird in Videos des Teams von Dominic Kaindl (gedreht im Alten Hallenbad Feldkirch) die Atmosphäre der schwarz-weißen Filmära lebendig, samt dem originalen Knacken der alten Langspielplatten, dem stilechten, elend langen Abspann und dem unvermeidlichen „The End“. Man scheut sich nicht, auch einen 1948-er Citroen im Saal zu präsentieren, der sich lautstark bemerkbar macht. Auch der in Originalkostümen der Fünfziger gekleidete, deutlich verjüngte Chor des Musiktheaters unter der neuen Leitung von Khrystyna Korepanova überzeugt durch Stimmkraft und körperliche wie sängerische Beweglichkeit. Mit Anmut und Eleganz gefällt die ansehnliche Truppe der Ballettratten von Dance Art Company unter der Leitung von Christine Hefel.
Stimmiges Personal
Rund um das Zentrum der Nora Desmond gibt es drei weitere Hauptpartien für Profis, die die Handlung vorwärtstreiben und spannend in Schwung halten. Da ist der sympathische junge Schweizer Samuel Tobias Klauser, der als charmanter Dandy oder Gigolo Joe Gillis mit schönem Tenor verständlich die Sympathie der Diva erringt. Dabei gehört sein Herz eigentlich der jungen, hübschen Stuttgarterin Vanessa Maria Looss als Drehbuchautorin Betty Schaefer, die mit fein geführter Stimme auf sich aufmerksam macht. Und da ist noch das Faktotum der Diva, der langjährige Publikumsliebling Riccardo Di Francesco als Diener Max von Mayerling, der in seiner geheimnisvollen Art in aller Contenance mehr weiß, als er preisgibt.
Mit einem einfachen Trick hat man sich heuer der stets schwierigen Ausstattung (Roland Adlassnig) auf der beengten Bühne entledigt, indem man mit einem großen weißen Tüll den vorderen Teil vor dem Orchester abtrennte und sich dadurch blitzschnelle Szenenwechsel für das Personal ergeben. Aufwendig installiert wurden Licht- und Soundanlage (Manuel Schwald, Martin Biegger), optimal ausgesteuert auch über Mikroports für die Hauptpartien und die Verstärkung des Orchesters.
Dieses ist nicht wie sonst bei Oper und Operette verschämt im Orchestergraben versteckt, sondern als Teil der Handlung, als Hollywood-Filmorchester also, auf dem hinteren Teil der Bühne postiert. Die Musik des Stücks ist hier wirklich völlig unbekannt, aber es ist zu einhundert Prozent Webbers Handschrift erkennbar, die sich als roter Faden durch die Handlung zieht. In einer original Broadway-Besetzung mit Big-Band plus Streichern stellt sich in den verfügbaren Arrangements sofort der bekannte Webber-Sound ein, ein Easy-Listening-Klangteppich, der einem nie verleidet und ins Ohr geht. Der Tiroler Dirigent Michael Mader, schon öfter hier erfolgreich, besitzt ebenso wie sein 25-köpfiges Orchester eine ganze Menge an Swing-Feeling und Sinn für attraktive Akzente.
Ohne Opernstimme
Auch die weiteren Hauptdarsteller:innen erhalten in scharfer Charakterzeichnung anspruchsvolle Melodien zugesprochen, von denen das Hauptthema „Träume aus Licht“ vor allem für Nora Desmond zu einer Art Leitmotiv wird. Und man ist glücklich darüber, dass Dora Kutschi, die von ihrer Ausbildung und lebenslang als Lieder- und Opernsängerin unterwegs ist, in großer Flexibilität an diesem Abend alles Opernhafte außen vor lässt. Sie kann auch Musical und wird zu einer waschechten Sängerin und Darstellerin in diesem Genre, der man auch ihre bedrohlichen Mezzo-Untertönen glaubt. Als sie sich im Schlussapplaus mit einem formvollendeten Hofknicks beim Publikum bedankt, ist ihre Figur damit vollendet.
Vielleicht könnte die Anregung gelten, dass aufgrund dieses Erfolges, von Götzis ausgehend, das fast vergessene Webber-Musical an Profibühnen im deutschsprachigen Raum eine Wiederentdeckt erfährt.
weitere Vorstellungen:
So, 6.10 und So 13.10 jeweils 17 Uhr sowie Di, 8.10, Do 10.10. jeweils 19 Uhr
Kulturbühne Am Bach, Götzis
Do, 15.10., 19 Uhr
Gastspiel im Reichshofsaal Lustenau
Dauer: ca. 2 Stunden
Karten unter 0664 / 214 35 04, office@mtvo.at
https://mtvo.at/