Faktencheck: Das Vorarlberger Gesundheitssystem ist unterdurchschnittlich Michael Diettrich · Feb 2021 · Gesellschaft

Das Vorarlberger Gesundheitssystem ist selten Thema der hiesigen politischen Auseinandersetzung, Ausnahmen sind Debatten über lange Wartezeiten auf Behandlungen bzw. Operationen in den Spitälern oder um die Schließung von Geburtenstationen. Auffällig ist auch, dass so ziemlich quer durch alle Parteien Übereinstimmung darin herrscht, dass Vorarlberg eine hohe, wenn nicht zu hohe Dichte an Spitalsbetten hat, die man aus Kostengründen durchaus reduzieren, zumindest aber konzentrieren könne. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, wenn Landeshauptmann Wallner in den VN vom 03.01.21 feststellt, das Vorarlberger Spitalswesen habe in der Corona-Pandemie einen „echten Härtetest bestanden“: „Wir haben ausreichend Spitalsbetten im Land.“ Mit anderen Worten: Selbst in schwierigsten Zeiten war mal wieder alles in Ordnung im Ländle. Da staunt der aufmerksame Beobachter und erinnert sich an den 14.11.20, als der LH in einem Interview mit dem ORF Vorarlberg ein bedrohliches Lagebild zeichnete und meinte, es scheine alles aus dem Ruder zu laufen: „Ich glaube, es braucht jetzt so etwas wie eine Notbremse, (…) damit unsere Spitalskapazitäten halten“; oder an die Pressekonferenz des KHBG-Direktors Fleisch am 13.11.20, in der er die Situation in den Vorarlberger Spitälern als so „hoch labil“ bezeichnete, dass sie „jederzeit kippen“ könne. Er schloss sogar einen Wechsel in die „Katastrophenmedizin“ bzw. eine Triage nicht aus: „Wir könnten schon im November an unsere Kapazitätsgrenzen stoßen.“* Haben die Herren nun im November maßlos übertrieben oder wird derzeit mal wieder alles schön gefärbt? Unterziehen wir also das Vorarlberger Gesundheitssystem einem Faktencheck, der überraschende Ergebnisse zu Tage fördert: Im Österreichvergleich ist die Vorarlberger Gesundheitsversorgung unterdurchschnittlich.

„Die Corona-Krise wirkt wie ein Brennglas, legt Stärken und Schwächen schonungslos offen“ (LH Wallner)[1]

Beginnen wir mit dem niedergelassenen Bereich, der zwar nicht unmittelbar in die Zuständigkeit der Landesregierung fällt, aber dennoch eine wichtige Rolle auch im Hinblick auf die stationäre Versorgung spielt: Vorarlberg gehört mit 4,31 ÄrztInnen auf 1.000 EinwohnerInnen zu den Bundesländern mit der geringsten Ärztedichte. Ähnlich wenig haben nur noch das Burgenland (4,34) und Oberösterreich (4,25), der Österreichschnitt liegt bei 5,30.[2] Erschwerend kommt hinzu, dass die Zahl der KassenärztInnen seit Jahren sinkt und auch nicht durch eine höhere Zahl von WahlärztInnen ausgeglichen wird. Der relativ hohe Anteil an WahlärztInnen führt u.a. dazu, dass die VorarlbergerInnen die höchsten privaten Ausgaben für ambulante ärztliche Behandlungen aller Bundesländer haben. Die Gesundheitsökonomin Maria Hofmarcher stellt in ihrer Studie über die Leistungskraft regionaler Gesundheitssysteme für Vorarlberg jedenfalls nüchtern fest: „Die Versorgung im ambulanten Bereich ist auf einem niedrigen Niveau.“[3]
Nicht viel besser sieht es im stationären Bereich aus: Im Gegensatz zum Mythos der hohen Spitalsbettendichte hat Vorarlberg mit 520 Betten je 100.000 EinwohnerInnen die bei weitem niedrigste Bettendichte aller Bundesländer, der Österreichschnitt liegt bei 750.[4] Pikanterweise ist diese Differenz zum Durchschnitt in etwa so hoch wie die Zahl der Betten des Notlazaretts, das in der Corona-Epidemie in der Dornbirner Messe aufgebaut werden musste. Nun geht es beim Thema Spitalsbetten nicht nur um Bettgestelle, sondern in erster Linie um das diese Betten betreuende Personal. Auch hier liegt Vorarlberg mit 224,6 Personalstellen je 100 Betten über alle Personalgruppen betrachtet weit unter dem Österreichschnitt (272,2) auf dem letzten Platz im Bundesländervergleich, insbesondere beim Pflegepersonal.[5] Während Hofmarcher die Wartezeiten auf Spitalsbehandlungen in Vorarlberg zumindest im österreichischen Mittelfeld sieht, bezeichnet sie die hiesige Versorgungsqualität von Krebserkrankungen und Erkrankungen der Atemwege als „mangelhaft“ und sieht bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen „Aufholbedarf“.

Das Freimachen von Intensivbetten hatte seinen Preis.

Auch dass die Vorarlberger Intensivstationen das Nadelöhr in der Corona-Pandemie waren/sind, überrascht nicht: Mit 22,9 Intensivbetten (für Erwachsene und Neugeborene) pro 100.000 EinwohnerInnen erreicht Vorarlberg gerade eben den Minimumrichtwert des Österreichischen Strukturplans Gesundheit (ÖSG): Der gibt mindestens 22 Intensivbetten je 100.000 Einwohner vor (Maximum: 36), der österreichische Durchschnitt liegt lt. OECD bei knapp 29. Zudem schneidet Vorarlberg bei der Ausstattung der Betten schlechter als der Bundesdurchschnitt ab: Von den 66 lt. Regionalem Strukturplan Gesundheit (RSG) im Land für Erwachsene regulär zur Verfügung stehenden Intensivplätzen waren lediglich 34 technisch und personell voll ausgestattet (sog. ICU) und damit für Covid-19-Behandlungen geeignet. Die restlichen 32 Plätze waren nur für kurzzeitige Überwachungen ausgerüstet (sog. IMCU), hatten deshalb großteils keine Beatmungsgeräte und nur den halben Personalschlüssel. Im österreichischen Durchschnitt ist das Verhältnis knapp zwei Drittel voll ausgestattete Intensivplätze zu einem Drittel Überwachungsplätze.
Als es dann in der zweiten Corona-Welle eng wurde, hat man in den Vorarlberger Spitälern auch die Überwachungsplätze mit Beatmungsmaschinen ausgestattet und letztlich sogar noch die Aufwachplätze aus den Operationssälen dazugerechnet. So kam man auf die von KHBG und Landesregierung kolportierten 51 Intensivplätze, die dann auf 63 und 75 erweitert wurden und angeblich bis auf maximal 104 noch hätten erweitert werden können. Was nicht erwähnt wurde: Für diese Erweiterungen hatte man gar nicht das ausgebildete Intensivpersonal. Man hat in der Not Pflegepersonal aus der Anästhesie und den OPs als Hilfskräfte in die Intensivstationen verlegt, um die aufwändige Behandlung von Corona-PatientInnen überhaupt bewältigen zu können. Dieses Personal hat dann für die Behandlung anderer PatientInnen gefehlt und das ist der einzige Grund dafür, dass sog. „nicht erforderliche“ Operationen bzw. Untersuchungen aufgeschoben werden mussten. Insgesamt wurden die Operationen in den diversen Vorarlberger Spitälern auf bis zu 30 bis 50 % des Normalbetriebes eingeschränkt. Hofmarcher zu solchen Notkonstruktionen: „Das Freimachen von Intensivbetten hatte seinen Preis. (…) Durch die gesetzten Maßnahmen wurde die Gesundheitsversorgung von Nicht-COVID-19-Patientinnen eingeschränkt, mit besonderem Schwerpunkt chronischer, insbesondere onkologischer Erkrankungen. Das könnte die Krankheitslast, aber auch die Mortalität dieser Patientinnen erhöhen.“
Wenn der Landeshauptmann also stolz verkündet, das Vorarlberger Spitalswesen habe den Corona-Härtetest bestanden, muss man dem widersprechen: Entspräche die Ausstattung der Vorarlberger Intensivstationen wenigstens dem österreichischen Bundesdurchschnitt, hätten wir (regulär) für Erwachsene 17 Intensivbetten mehr. Dann hätte man nicht nur die Nicht-Covid-Versorgung weitestgehend aufrechterhalten und gesundheitliche Folgeschäden der Nichtbehandlung vermeiden können. Man hätte auch den enormen Personalverschleiß verhindern können. Denn selbstverständlich wurde dieser „echte Härtetest“ in erster Linie auf den Knochen des Krankenhauspersonals ausgetragen: Insbesondere auf den Intensivstationen, wo die vielen und sehr aufwändigen Covid-19-Behandlungen mit zum Teil nicht adäquat ausgebildetem (Pflege-)Personal bewältigt werden mussten, befinden sich die MitarbeiterInnen seit mittlerweile fast einem Jahr im Dauerstress, von dem sie sich auch während der Corona-Sommerpause nicht erholen konnten. Und zu guter Letzt: Möglicherweise hätte man auch einen Lockdown wegen drohender Überlastung des Gesundheitssystems verhindern können.
In der KHBG-Direktion hält man solche Vergleiche hingegen für nicht statthaft: Vorarlberg habe regionale Besonderheiten, weswegen man die hiesigen Intensivbettenzahlen nicht mit dem Rest Österreichs vergleichen könne. Abgesehen von der Frage, welche Besonderheiten das denn wohl sein mögen, sieht der Landesrechnungshof das offenbar anders: In seinem Prüfbericht über das LKH Bregenz im Jahr 2007 verglich er das Vorarlberger LKH problemlos mit Spitälern in Tirol und Oberösterreich. Ganz unabhängig von solchen Vergleichen sieht auch der Chef der Anästhesie und Intensivmedizin am LKH Feldkirch, Reinhard Germann die Sache etwas realistischer: In „Vorarlberg Heute“ meinte er kürzlich, Vorarlberg brauche künftig 10 Intensivbetten mehr. Und selbst KHBG-Direktor Fleisch ist sich seiner Sache wohl nicht ganz so sicher: Von der APA wird er am 03.12.20 mit der Aussage zitiert, die Vorarlberger Spitäler hätten in der zweiten Welle wohl „Glück gehabt“. Damit dürfte er der Wahrheit näher kommen als der Landeshauptmann mit seinem bestandenen „echten Härtetest“.

In Zukunft ...

Fast könnte man meinen, dass sogar der Landeshauptmann nachdenklich geworden ist. In den VN vom 03.01.21 wird er mit der Aussage zitiert, im Lichte der Pandemie sei auch die Struktur im Gesundheitswesen neu zu bewerten. Man habe zwar ausreichend Spitalsbetten im Land, aber in Zukunft werde man besonders darauf achten müssen, genügend und gut ausgebildetes Personal zur Verfügung zu haben. Allein – es fehlt der Glaube! Bereits nach der ersten Welle wäre es angezeigt gewesen, in Vorbereitung auf eine abzusehende zweite Welle insbesondere auf den Intensivstationen das Personal aufzustocken. Stattdessen hat Wallner bereits im April zehnprozentige Einsparungen im Gesundheitsbereich angekündigt. Und im Landeshaushalt 2021 ist keine einzige zusätzliche Stelle für die LKH vorgesehen! Dass Direktor Fleisch dieses Nullwachstum im Stellenplan auch noch mit einer „Solidaritätshaltung“ des Gesundheitswesens gegenüber anderen Branchen begründet, die noch mehr unter der Coronakrise leiden[6], kann man nur als Sarkasmus bezeichnen. Offenbar weiß Herr Fleisch nicht, wie sehr seine MitarbeiterInnen unter Corona gelitten haben – ganz abgesehen davon, dass er mit solchen Aussagen wahrlich keine Werbung für den Mangelberuf Pflege betreibt: Immerhin gelten die schlechten Arbeitsbedingungen als Haupthindernis für eine Behebung des eklatanten Mangels an Pflegepersonal.

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* Liveblog.tt.com vom 13.11.20

[1] s. VN vom 03.01.2021: Landeschef Wallner will Digitalisierung stärken

[2] Bundesärztekammer, Daten & Fakten. Zahlen für das Jahr 2019

[3] M.M. Hofmarcher u. C. Singhuber, FACT BOOK Leistungskraft regionaler Gesundheitssystem in Zeiten von Covid-19, August 2020 (Hrsg.: Austrian Health Academy)

[4] Jahresmeldung Krankenanstaltenstatistik (Oktober 2020)

[5] BMSGK, Krankenanstalten in Zahlen 2018 (Oktober 2019)

[6] s. VN vom 21.11.20: Kein Personal für die Spitäler

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Dieser Artikel ist bereits in der aktuellen Print-Ausgabe (Februar 2021) erschienen.

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