Die Leitfrage des 35. Vorarlberger Wirtschaftsforums wurde von vielen Seiten beleuchtet, die Scheinwerfer auf Kunst und Kultur blieben jedoch dunkel Mirjam Steinbock · Dez 2018 · Gesellschaft

"Europa und die Welt. In welche Richtung drehen wir uns?", hieß es Anfang November beim Vorarlberger Wirtschaftsforum. Diese komplexe Frage widmete sich sowohl der Standortbestimmung als auch verschiedenen Bewegungsimpulsen, zu denen sieben ExpertInnen aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft referierten. Trotz der detaillierten Einblicke in aktuelle politische Herausforderungen, in Begleiterscheinungen von Industrie 4.0 und dem daraus resultierenden Fachkräftemangel hielten sich die ReferentInnen mit konkreten Visionen zurück. Dabei sprachen beinahe alle vom Wandel, von Visionen und innovativer Bewegung. Was eine dringende Frage aufwarf: Wo waren eigentlich all die ExpertInnen aus Kunst, Kultur, Sport und Architektur?

Deren Ansichten zur Tagungsleitfrage zu hören, wäre sehr spannend gewesen. Und der Rahmen der internationalen Tagung böte dafür gute Bedingungen, wenn das Format auch sehr konventionell angelegt ist mit seinen Frontalvorträgen. Bei der Auswahl der Referierenden und in der Thematik legten die Veranstaltungsinitiatoren Vorarlberger Nachrichten, Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer Vorarlberg durchaus Weitblick an den Tag: von Hirnforschung und Aufdeckungsjournalismus über Informatikstudium, wirtschaftlicher Best Practice und politischen Einblicken waren viele Bereiche abgedeckt, die unter den Nägeln brennende Herausforderungen im wirtschaftlich durchaus florierenden Mitteleuropa sichtbar machten.

Kaum zu durchdringende Oberfläche
Gleichzeitig sollte die Frage im Raum schweben, was von einer traditionellen Tagung, die mittlerweile im 37. Jahr steht, erwartet und erhofft wird. Sofern es genügt, dass die Speaker-Riege hochkarätig besetzt und die Kongress-Szenografie modern ist, dass das Publikum einen vorzeigbaren Querschnitt bedeutsamer Wirtschafstreibender aufweist und wertvolle Pausen von guter Bewirtung und netzwerkausbauenden Gesprächen flankiert sind, ist diese Veranstaltungsform passend gewählt. Wer hingegen provokantere Fragen bevorzugt oder eine etwas verwegenere Idee als beispielgebenden Grundantrieb für die eigene Unternehmung begrüßt hätte, stieß bei diesem Wirtschaftsforum an die Grenzen einer kaum zu durchdringenden Oberfläche.
Diese durchlässig oder zumindest durchsichtig zu machen, hätte der Vorarlberger Künstler und Grafikdesigner Christian Fischer sicher vermocht und dem Publikum nebenbei den für Veränderung notwendigen Spiegel vorgehalten. Im Rahmen der POTENTIALe, Festival für Stadtentwicklung in Feldkirch, entwarf Fischer einen aus Kupfer und Glas bestehenden Zwölf-Flächer, in den er einen Farn pflanzte. Auf einem Sockel angebracht bildete diese Art Gewächshaus gemeinsam mit einem Ventilator, einer Lampe und einer einfachen Wasseranlage eine komplexe Apparatur, die von BesucherInnen mit einer App auf dem eigenen Smartphone in Gang gesetzt werden konnte. Je nach Auswahl der digitalen Bedienfelder Luft, Licht und Wasser wirkten die Elemente auf den Glaskörper ein – allein den Farn erreichten diese Maßnahmen nicht. Eine Kritik Fischers an unzählige Selbstoptimierungs-Apps, bei der „alles an der Oberfläche bleibt“, so der Künstler, der damit eine der Unvereinbarkeiten digitaler und analoger Welten zeigte.

Bessere Rahmenbedingungen durch Politik
Wie wichtig Verbindungen von Polaritäten sind, machte SPÖ-Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner in ihrem Vortrag sichtbar. Sie appellierte, sich arbeitsmarktrelevanter Veränderungen durch Industrie, Automatisierung und Digitalisierung bewusst zu sein und an die VerliererInnen aus diesen Entwicklungen zu denken. Kürzungen in der Arbeitsmarktförderung hielt die Politikerin für falsch, nannte Bildung und Ausbildung als wirtschaftlichen Erfolg Österreichs und strich namhafte Großunternehmen Vorarlbergs heraus, die ihre Erfolgsgeschichte teilweise in Garagen begonnen hatten. „Am Ende sind es die kreativen Unternehmen, die es schaffen können, mit Innovation zu bereichern“, gab sie sich überzeugt. Innovation UND Arbeitsplätze müsse es heißen, statt eines Oder. Es sei das Erfolgsrezept der Zweiten Republik, das Verbindende vor das Trennende zu stellen.
Verbindungen zwischen Beruf und Familie herzustellen, erachtete Rendi-Wagner für besonders wichtig. Sie bemerkte den hohen Männeranteil im Publikum und betonte, Frauen sollten stärker in den Vordergrund gestellt werden. Dazu brauche es ein gesellschaftliches Verständnis und die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen seitens Politik.

Alle Frauen sind immer daheim
Die bildende Künstlerin Christine Lederer nahm nur eine Woche später anlässlich der Ausstellungseröffnung von „Alle Frauen sind immer daheim“ in der Galerie Hollenstein in Lustenau genau auf dieses Thema Bezug. Die von Katrin Dünser und Claudia Voit kuratierte Ausstellung zeigt noch bis 16. Dezember den weiblichen Alltag im häuslichen Umfeld. Durch die künstlerische Betrachtung und Umsetzung der Bludenzerin Christine Lederer und der Feldkircherin Anne Marie Jehle bekommen Alltags- und Haushaltsgegenstände plötzlich eine andere Wirkung. Spannend dabei: Die Künstlerinnen lernten sich nie persönlich kennen, ähnlich ist jedoch ihr genauer Blick auf Details, eine akribische Arbeitsweise und ein humorvoller Ansatz, das oft so schwere Joch spürbar zu machen, unter dem Frauen einen Einklang von Beruf, Familie, Gesundheit, Pflege und persönlicher Entfaltung zu gestalten versuchen.
„Im Zweifel Ja sagen!“, forderte Pamela Rendi-Wagner indes die wenigen Tagungsbesucherinnen in Fragen beruflich herausfordernder Entscheidungen auf. Wohl all den alleinerziehenden Mütter, die wie Christine Lederer neben ihrer Berufstätigkeit viel Energie in das Knüpfen eines dichten sozialen Netzes stecken, welches auffangen muss, was politisch und auch gesamtgesellschaftlich in Österreich noch nicht ausreichend unterstützt wird.

Impfschutz gegen Populismus und Vorurteile
Für wie krank sie Europa halte, fragte VN-Chefredakteur und Moderator Gerold Riedmann die vor ihrer politischen Karriere praktizierende Ärztin Rendi-Wagner im Anschluss an deren Vortrag. Die Medizinerin attestierte Europa eine Anfälligkeit für Populismus und wünschte sich – als Impfschutz-Expertin – eine Impfung dagegen. Hätte die Parteivorsitzende gewusst, dass im Mai 2017 auf dem Platz der Wiener Symphoniker, also in unmittelbarer Nähe der Forum-Bühne, der Schweizer Soziologe und Künstler Mark Riklin in einer ambulanten Impfstation gegen Vorurteile etlichen KonzertbesucherInnen eine hohe Dosis präventiver Maßnahmen und viel Gesprächsstoff verabreichte, wäre ihre Antwort vielleicht etwas anders ausgefallen. Einen Dialog zwischen der engagierten Politikerin und dem Schweizer Künstler, der mit Aktionen im öffentlichen Raum laufend von sich reden macht, könnte man sich bei einem solchen Veranstaltungsformat nur wünschen.

Drehung gen Osten
Aber auch bei anderen Vortragenden wie Elisabeth Stadler etwa kamen Gedanken an Best Practice aus der Kunst auf. Die Vorstandsvorsitzende der Vienna Insurance Group AG regte in ihrem Vortrag konkret dazu an, sich in Richtung Osten zu drehen. Stadler erläuterte, dass mit dem Ende des Kommunismus in Europa der größte politisch-ökonomische Transformationsprozess stattgefunden habe. Die Region CEE (Central Eastern Europe) sei ein Wachstumsmarkt und Österreich durch die Ost-Öffnung innovativer und reicher geworden. Und die Region CEE habe sich rascher von Krisen erholt als die EU-15-Staaten, sie könne nämlich heterogene Märkte vorweisen, habe mehr Diversität, erläuterte Stadler. Dem eigenen Unternehmen sprach sie eine hohe Vielfalt zu, geprägt von Kulturen und historischen Hintergründen, was für „positiven Drive und für Balance sorgt.“

Demokratisierung der Politik - ein künstlerischer Lösungsansatz
Das „Theater der Unterdrückten“ in Wien könnte Stadlers Überzeugung vermutlich bestätigen. Ein Ziel dieser vom brasilianischen Regisseur Augusto Boal gegründeten Theatermethode ist es, „die Menschheit menschlicher zu machen“, aber auch, durch große Vielfalt direkt auf demokratische Prozesse einzuwirken und sie auszulösen. In „Status Quo“, einem legislativen Theaterstück zu prekärer Arbeit, kooperierte das Theater der Unterdrückten Wien mit der Theatergruppe „Vse ali nič“ aus Ljubljana. Das legislative Theater, ebenfalls von Boal entwickelt, dient zur Demokratisierung der Politik. Es ist ein Instrument der Partizipation, mit dem eine neue Form des Dialogs zwischen BürgerInnen und politischen EntscheidungsträgerInnen möglich wird. Stücke und Szenen werden aus einer aktuellen Problematik heraus entwickelt und aufgeführt. Das Publikum hat die Möglichkeit, direkt in das Stück einzusteigen. Dessen Ideen und Vorschläge für Veränderungen und Verbesserungen werden gesammelt und bilden die Grundlage für die Formulierung von Gesetzesinitiativen und -vorschlägen, die den entsprechenden politischen Gremien vorgelegt werden. Auch in Vorarlberg gibt es ein Forumtheater. Die Friedensforscherin Julia Felder und der Theaterregisseur Michael Schiemer und sind derzeit mit ihrem Stück „Geh nicht“ auf Tournee in Tirol.

Resignation und Chance
Einen Überblick über Ursachen und Folgen von Populismus gab Thore D. Hansen in seinem Vortrag. Der Wirtschaftsjournalist und Schriftsteller erläuterte Zusammenhänge zwischen politischer Verdrossenheit, einer zunehmenden Abwendung der WählerInnen und der Chance, dass Europa das Erfolgsmodell des 21. Jahrhundert bleiben könnte. Die Menschen würden spüren, dass eine Grenze überschritten worden sei, so Hansen. Er erinnerte an die Finanzkrise, die in Europa mit einer Billion Euro aus öffentlichen Geldern bezahlt wurde sowie von Offshore-Leaks, Panama- und Paradise-Papers, Enthüllungen, die keinerlei Konsequenzen nach sich zogen. Daher gebe es eine Resignation, weil politisch Handelnde nicht in der Lage seien, Manager zur Rechenschaft zu ziehen. Hansen gab sich überzeugt, dass „das Konzert des Populismus bald ein Ende hat und die Zivilgesellschaft aufwacht“. Er betonte, dass EuropäerInnen mehr zusammen rücken müssten; Kunst und Kultur sollten dabei unterstützen.

Aus dem Blickwinkel von Unternehmer-Größen 
Auf kulturellen Austausch nahm auch Unternehmer Georg Meusburger, diesjähriger Preisträger für das unternehmerische Lebenswerk, Bezug. Im Gespräch mit Moderatorin Angelika Böhler erzählte er vom Aufbruch in die USA in jungen Jahren und seinen ausgiebigen Reisen. Noch heute würde er im Urlaub am liebsten mit seinem Wohnwagen zu Geschäftskunden und Partnern fahren, um diese vor Ort zu erleben. Kulturbeflissenen fallen hier vielversprechende Artist in Residence-Projekte und länder- wie spartenübergreifende Kulturvermittlungsprogramme ein, die exakt das Ziel haben, das der renommierte und weitgereiste Vorarlberger Unternehmer und Arbeitgeber beschreibt.
Und spätestens bei Reinhold Würth, einer der Größen des Unternehmertums, der parallel als Kunstliebhaber, -sammler und Mäzen von sich reden macht, wurde offensichtlich, dass die Sparten Wirtschaft, Kunst und Architektur auf Augenhöhe bewegen können und und sollen.
Würth, der während seines Vortrags nur so zwischen geschichtlichen Einblicken, dem Gewinn eines architektonisch-ästhetischen Arbeitsumfeldes und Unternehmensdiagrammen zu surfen schien, hielt schließlich bei seiner „Lieblingsumsatzkurve“ inne und betonte eindringlich, wie gut es uns in diesem Europa doch gehe. Auch er bekräftigte die Aussage, dass ein Zusammenhalten von Europa nun wichtig sei. Sollte das nicht der Fall sein, „sind wir in dreißig Jahren nur noch Vasallen der drei Großmächte USA, Russland und China“, so der Unternehmer.

Netzwerk und Transparenz
Magnus Resch, Kunstmarkt-App-Erfinder und Autor des Buches „Management für Kunstgalerien“ schätzt ein Zusammenrücken und Netzwerkbildung ebenfalls als unbedingt notwendige Erfolgsfaktoren unternehmerischen Handelns ein. In einem Interview mit der Zeitschrift „Monopol – Magazin für Kunst und Leben“ spricht sich der Kenner des Kunstmarktes für Fairness und Gleichberechtigung aus. Sein Ziel sei, „den Kunstmarkt transparenter zu machen, damit mehr Leute Kunst kaufen.“ Ihm gehe es darum, den Markt zugänglicher, fairer und ehrlicher zu machen.
Eine Absicht, die nicht nur diesem, sondern vielen Märkten und Foren gut tun würde. 
In welcher Gesellschaft sich das Wirtschaftsforum zukünftig drehen wird, bleibt jedenfalls spannend.

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