Faszinierender Einblick in Egberto Gismontis musikalisches Universum
Egberto Gismonti brachte mit Daniel Murray einen hochkarätigen Überraschungsgast mit
Peter Füssl · Nov 2024 · Musik

Der 76-jährige Brasilianer – Sohn eines Libanesen und einer Sizilianerin – ist weit mehr als eine Jazz-Legende, wenngleich er international seine größten Erfolge sicher mit den ab 1978 rund 25 beim Münchner Label ECM veröffentlichten Alben und im Trio mit Jan Garbarek und Charlie Haden erzielt hat. Aber insgesamt hat der auf Gitarre und Klavier konzentrierte Multiinstrumentalist und für Ensembles in allen Größen schreibende Komponist rund 70 Alben herausgebracht und betreibt schon lange erfolgreich sein eigenes, nach seiner Geburtsstadt Carmo benanntes Label. Gismontis musikalischer Horizont ist unglaublich weitgespannt, was er am gut gefüllten Dornbirner Spielboden gemeinsam mit seinem hochkarätigen Überraschungsgast Daniel Murray eindrucksvoll unter Beweis stellte.

Reichhaltiger musikalischer Fundus

Gismonti ist ein ausgewiesener Spezialist für die Musik Brasiliens – hierbei geht es um einen musikalischen Schmelztiegel allererster Güte – und gilt in seiner Heimat wegen seiner Vielseitigkeit als legitimer Nachfolger des großen Komponisten Heitor Villa-Lobos. Er hat aber auch in Paris zeitgenössische Komposition beim Anton Webern-Schüler Jean Barraqué und bei der legendären Nadia Boulanger studiert, zu deren Schüler unter anderem Aaron Copland, Astor Piazzolla, Quincy Jones und Philip Glass zählten. Und last but not least ist Gismonti auch ein Musikethnologe, der monatelang in der Wildnis bei irgendwelchen indigenen Stämmen verbrachte, um deren Musik zu erforschen. Der Jazz macht also nur eine Komponente im reichhaltigen musikalischen Fundus Gismontis aus, aus dem er jederzeit schöpfen kann.

Die Kunst der Gitarre hoch zwei ...

Seine 14-saitige Gitarre hat Gismonti wohl zuhause gelassen, an den Spielboden brachte er jedenfalls die 10-saitige mit und als Überraschungsgast seinen Landsmann Daniel Murray. Bei uns ist der 43-jährige Gitarrist (noch) weitgehend unbekannt, er verfügt aber bereits über ein spannendes Oeuvre im Bereich zeitgenössischer und auch avantgardistischere Gitarrenmusik und deren elektroakustischen Erweiterungsmöglichkeiten. Vor fünf Jahren veröffentlichte Murray – natürlich auf Carmo – das Album „Universo Musical de Egberto Gismonti“ mit dreizehn Solo-Interpretationen von Kompositionen des großen Meisters. Am Spielboden saßen sie sich nun mit ein paar Metern Abstand gegenüber und hatten sich bei ihren meisterlichen Duo-Improvisationen buchstäblich permanent und sichtlich wohlwollend im Auge. Wie perfekt Murray das musikalische Material beherrscht, zeigte sich unter anderem darin, dass er auf seiner klassischen sechsaitigen Gitarre auch schwierigste Passagen unisono mit Gismonti mitspielen konnte. Sie entfalteten einen bunten Reigen aus volksliedhaften Melodien, schwindelerregend schnellen Läufen, rhythmisch und harmonisch vertrackten Passagen und atemberaubenden Tempowechseln. Gismonti lässt immer wieder seine technische Raffinesse aufblitzen, die ihm – nicht nur an der 10-Saitigen – eine Sonderstellung zukommen lässt. Nach jedem Stück stehen sie auf, gehen ein paar Schritte aufeinander zu und reichen sich mit einem zufriedenen Kopfnicken die Hände. Beim vierten Stück wechselt Gismonti dann an den Flügel, wo er gemeinsam mit Murray ein facettenreiches Stück ganz großen Kinos mit unzähligen Twists and Turns, rasanten Läufen und abrupten Breaks realisiert.

... und solo am Steinway

Spielboden-Jazz-Kurator David Helbock, selbst ein großartiger Tastenkünstler, hält Egberto Gismonti für einen einzigartigen Pianisten, dem nur Keith Jarrett das Wasser reichen könne, weshalb er zur Feier des Tages, oder besser des Abends extra einen Steinway D Konzertflügel auf die Bühne stellen ließ. Der Maestro bedankte sich mit einer mit rasanten Läufen über die gesamte Tastatur und explosiven Passagen gespickten, längeren Komposition von Villa-Lobos voller gehämmerter Ausrufezeichen. Brasilianische Komponisten würden viel zu selten gespielt, meint er in seiner kurzen Ansage. Nach dieser eindrucksvollen Tour de Force startete das nächste Stück etwas verspielter, Gismonti steigerte sich aber wieder rasch – ein breites Spektrum an unterschiedlichsten Ausdrucksformen ausschöpfend – in einen rasenden Spielrausch, der sich wiederum in zauberhaft hingetupfte Fantasien verwandelten. Seine Kunst lebt nicht zuletzt auch von explosiven Gegensätzlichkeiten, die stilistische Vielfalt seiner Stücke ist exzellent arrangiert und sie folgen stets einer klugen Dramaturgie.

Schließlich kehrt Daniel Murray für das letzte Stück zurück und präpariert seine Gitarre für ein – nicht nur von der Tonbildung her – extravagantes Stück, das dieses Gitarren-Duo nochmals von seiner interessantesten Seite zeigt. Vom begeisterten Publikum lässt sich die Legende – nicht ohne nachdenklich auf die Uhr zu blicken und verschmitzt eine Geste der Müdigkeit anzudeuten  – gemeinsam mit seinem jungen musikalischen Dialog-Partner schließlich nochmals auf die Bühne bitten, um eine Zugabe zu spielen, die mit zeitgenössischer Kammermusik und Klassik mindestens gleich viel zu tun hatte wie mit Jazz. Die Musiker zeigten sich ebenso tief zufrieden wie das Publikum, und Egberto Gismonti, der bei Konzerten auch schon viel wortkarger war, machte an diesem Abend einen außergewöhnlich entspannten Eindruck. Es war wohl auch gemäß seinen gehobenen Ansprüchen ein exzellentes Konzert!

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