Eurotrash im TAK – nirgendwo in der Schweiz Anita Grüneis · Mai 2023 · Theater

Das Thalia Theater Hamburg bescherte dem TAK-Publikum im SAL mit seinem Gastspiel „Eurotrash“ eine Sternstunde der schauspielerischen Erzählkunst. Dramaturgin Susanne Meister und Regisseur Stefan Pucher hatten den gleichnamigen Roman von Christian Kracht auf wesentliche Elemente zusammengekürzt und daraus ein Zweipersonenstück der Extraklasse geschaffen, spielerisch perfekt umgesetzt von Barbara Nüsse und Jirka Zett.

Der Roman „Eurotrash“ des Schweizer Autors Christian Kracht erschien 2021. Darin reist ein Sohn mittleren Alters mit seiner alkoholkranken Mutter in einem Taxi durch die Schweiz. Im Gepäck 600.000 Franken in einer Plastiktüte und einen Rollator. Das Stück wurde vor zwei Jahren sowohl von der Berliner Schaubühne als auch vom Thalia Theater für die Bühne adaptiert, im Mai letzten Jahres brachte das Wiener Akademietheater seine Version heraus. Nun gastierte die Hamburger Version auf Einladung des TAK Theater Liechtenstein im Schaaner SAL.

Von oben und unten und innen

Auf der Bühne eine freistehende Wendeltreppe aus Stahlrohrgestänge, dazu ein halbrunder Laufsteg aus Holzpaletten (Bühne: Barbara Ehnes). Die Treppe spielt im Lauf der nächsten zwei Stunden verschiedene Rollen, auf ihr und mit ihr brillieren eine fiktionalisierte Version des Autors Christian Kracht als Ich-Erzähler (Jirka Zett) und seine ebenso fiktive psychisch kranke Mutter (Barbara Nüsse). „Erzähl mir doch was“, fordert sie ihren Sohn immer wieder auf. „Wahrheit oder Fiktion?“, fragt dieser. „Da ist mir egal, entscheide du.“ Und so erzählt der Sohn seiner 80-jährigen Mutter Geschichten über einen Rechtsruck in der Schweiz, durch die sie gerade reisen, oder von den Gebrüdern Schlumpf, die in Basel eine gutgehende Textilfabrik hatten und die 300 der teuersten Autos der Welt, die von den Mitarbeitern in Brand gesteckt wurden, woraufhin sich die Besitzer die Autos in Miniatur-Format nachbauen ließen und in einer gekühlten Hotelsuite einschlossen. Der Sohn erzählt aber auch Familiengeschichten. Wahrheit oder Fiktion?
So genau weiß man das nicht. Wahr ist aber, dass vor den Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer eine Familiengeschichte aufgerollt wird, in der viel Verborgenes schlummert, und das nicht nur wegen der Nazi-Vergangenheit des Vaters. Auch die pragmatische Beziehung zwischen Mutter und Sohn wird im Laufe des Abend durchleuchtet. Die zierliche alte Dame im Chanel-Kostüm hat nicht nur ständig Tabletten und Alkohol in sich, sie lebt auch in ihrer eigenen abgeschlossenen Welt. Beim Forellenessen vergleicht ihr Sohn sie beide mit Don Quijote und Sancho Panza; und was antwortet die Mutter? „Das waren erfundene Figuren. Wir sind echt“, und sticht mit einer Gabel in die Hand des Sohnes, die er eben versöhnlich nach ihr ausstreckte. Als der Sohn aufschreit, meint sie nüchtern: „Siehst du, du bist echt.“

Wir sind alle und niemand

„Können wir nicht gleichzeitig echt und erfunden sein?“, hatte der Sohn davor gefragt. Und genau das waren die beiden an diesem Abend. Sie waren der Ich-Erzähler Christian Kracht und seine Mutter. Sie waren aber auch Jirka Zett und Barbara Nüsse. Da war kein falscher Ton, das war alles authentisch. Die achtzigjährige Schauspielerin Barbara Nüsse war jeden Zoll diese narzisstische Mutter mit ihrem nicht immer so klaren Kopf, und Jirka Zett spielte nebenher den Taxi-Chauffeur, den Hotelier, den Kellner und den Kommunen-Guru. Doch immer blieb er der Sohn, der nach etwas Wärme bei seiner kalten Mutter sucht. Gleich zu Beginn wird er mit ihrem künstlichen Darmausgang konfrontiert und mit der Tatsache, dass er nun den Beutel zu wechseln hat. Dann erzählt ihm seine Mutter von ihrer Vergewaltigung als Mädchen, von ihrem Hass auf die Berge und die Täler der Schweiz und ihrer Sehnsucht nach Afrika. Sohn Christian berichtet seinerseits von seiner Zeit in Gstaad, als David Bowie nebenan wohnte und vom Film „Merry Christmas, Mr. Lawrence“, den er als Kind mindestens zehnmal gesehen hatte. Doch keiner interessiert sich wirklich für den anderen und so reisen sie weiter nebeneinander her durch die Stationen ihres Lebens. Bleiben sich dabei fremd-vertraut. Wollen das Nazi-Geld des Vaters verschenken und finden doch niemanden dafür, selbst die drei Inderinnen in Form von drei indonesischen Stabpuppen wollen das „Schmutz-Geld“ nicht.

Text und Wahrheit im Mittelpunkt

Die Wendeltreppe auf der Bühne war Gondelbahn und Aufzug, sie war aber auch ein Symbol für da oben und da unten – denn Frau Mutter achtete sehr auf den Status, das Dazugehören zur Oberschicht. Und ganz zum Schluss wirkte die Treppe plötzlich auch wie eine Himmelsleiter, denn die Mutter geht in ihre Welt zurück und der Sohn in die seine. Sie werden sich wohl zu Lebzeiten nicht wiedersehen. Oder doch? Regisseur Stefan Pucher schuf eine starke Inszenierung, die sich ganz auf den Text stützt und auf das Spiel seiner Protagonist:innen. Barbara Nüsse und Jirka Zett zeigten echte Menschen auf der Bühne, mit ihren Ecken und Kanten, die sich suchen und doch gleichzeitig fliehen, die in ihren Biografien wühlen und doch nur die genetische Verbindung darin finden. Und wenn Barbara Nüsse auf der Wendeltreppe ganz oben steht wie Moses auf dem Berg Sinai, und ihrem Sohn seinen schlechten Literaturkonsum und noch viel mehr um die Ohren schmettert, dann steht da auch eine alte Tragödin, die Wahrheit und Fiktion bestens unterscheiden kann. Barbara Nüsse war an diesem Abend jeden Zoll eine atemberaubende Wahrheit.

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