Ermordung gesellschaftlicher Randfiguren
Die Verfolgung von „Gemeinschaftsfremden“ in Vorarlberg im Nationalsozialismus
Severin Holzknecht · Dez 2023 · Literatur

In seiner neuesten Arbeit widmet sich der Historiker Gernot Kiermayr einmal mehr einer der weniger breit beforschten Opfergruppen des Nationalsozialismus, den im zeitgenössischen Jargon als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ diffamierten Menschen am Rande der Gesellschaft. Diese oftmals deviantes Verhalten an den Tag legenden Männer und Frauen befanden sich außerhalb der von den Nationalsozialisten propagierten „Volksgemeinschaft“ aller „arischen“ Deutschen. Da es den NS-Behörden gestattet war, ihnen unangenehme Personen aus der „Volksgemeinschaft“ auszuschließen, ist die Eingrenzung derer, die als „asozial“ bezeichnet wurden, nicht einfach – der Terminus wurde unscharf und willkürlich angewandt.

Im Gegensatz etwa zu anderen Opfergruppen wie den Roma und Sinti oder den Juden fußte die Verfolgung bei „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ nicht auf einem festgeschriebenen, reichsweit gültigen Regelwerk. Was an einem Ort zur Einweisung in ein Konzentrationslager führte, musste andernorts nicht zwangsweise dieselbe Konsequenz nach sich ziehen. Die Verurteilung wegen eines bestimmten Deliktes war beispielsweise nicht notwendig, oftmals reichte einfach ein längeres Strafregister oder die Erregung des Missfallens der NS-Behörden.
Das Vorhandensein einer geregelten Arbeit war Grundvoraussetzung für die Mitgliedschaft in der „Volksgemeinschaft“. Wie Gernot Kiermayr beschreibt, war der nationalisierte und naturalisierte Arbeitsbegriff, der Dienst an der „Volksgemeinschaft“, das entscheidende Differenzkriterium zwischen den sogenannten „Volksgenossen“ und den aus der „Volksgemeinschaft“ Verstoßenen, den „Gemeinschaftsfremden“. Menschen mit einem aus welchem Grund auch immer unsteten Lebenswandel, einer in den Augen des NS-Regimes ungenügenden Arbeitsmoral (worunter etwa Bummelei fiel) oder Kleinkriminelle fielen folgerichtig leicht der Verfolgung anheim, waren – in den Worten des Reichsjustizministers Otto Georg Thierack – für „die Vernichtung durch Arbeit“ in Konzentrationslagern vorgesehen.
Der Verfolgung als „Gemeinschaftsfremde“ fielen mehrheitlich Männer zum Opfer, wobei von den NS-Behörden vielfach Alkoholmissbrauch, aber auch Faulheit als charakteristische Wesensmerkmale der Verurteilten angeführt wurden. Bei Frauen war es ebenfalls die Unterstellung mutmaßlich sittlich-moralischer Mängel, die ihnen zum Verhängnis wurden; vielen Frauen wurde etwa ein ausschweifendes Sexualleben attestiert. Alkoholmissbrauch, unsittliches Verhalten, Faulheit, Bettelei, sonstiges auffälliges Verhalten oder einfach allgemeine Armut: „Charakterschwächen“, die bereits weit vor der Zeit des Nationalsozialismus (und auch nach 1945) von breiten Teilen der Gesellschaft mit Verachtung quittiert und zum Teil auch rechtlich geahndet wurden – in Österreich etwa über viele Jahrzehnte mittels des Vagabundengesetzes von 1885. Die Nationalsozialisten errichteten ihren Verfolgungsapparat auch in diesem Fall auf einem Fundament, das weit älter war und tiefer in die Gesellschaft reichte als ihre „Bewegung“. Selbst in den Konzentrationslagern begegneten Mithäftlinge den mit dem grünen Winkel gekennzeichneten „Kriminellen“ vielfach mit Misstrauen, da diese „Berufsverbrecher“ verdächtigt wurden, Spitzel und Gehilfen der SS zu sein. Entsprechend ambivalent war dieser Opfergruppe gegenüber auch die Haltung nach Kriegsende. Sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ wurde beispielsweise die Aufnahme in die neugegründeten Opferverbände verweigert, wodurch sie kaum Chancen auf Wiedergutmachung und Anerkennung erhielten.

„Natürliche“ Todesfälle

Vorarlberger „Gemeinschaftsfremde“ – wie der dem Buch seinen Titel gebende Dornbirner Oswald Schwendinger – deren Biografien Gernot Kiermayr minutiös erforscht und in seinem Werk nacherzählt hat, wurden wie ihre Leidensgenossen anderer Verfolgtengruppen vielfach in Konzentrationslagern ermordet – in Schwendingers Fall im KZ Dachau. Sie wurden jedoch auch in Heil- und Pflegeanstalten wie jener in Hall in Tirol zu Tode gebracht. Dabei handelte es sich oftmals um „natürliche“ Todesfälle durch bewusst herbeigeführte Mangelernährung. Vielfach entledigten sich auf diesem Wege die Gemeinden von den ihnen anvertrauten Armen – Armut entwickelte sich in den 1930er-Jahren in Folge der Weltwirtschaftskrise zu einem Massenphänomen und zu einer großen Belastung der öffentlichen Hand –, um sich so finanziellen und personellen Aufwand zu ersparen. In diesem Zusammenhang kam es wiederholt zu Überschneidungen mit der sogenannten „Aktion T4“, dem systematischen Massenmord an Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen – benannt nach der Adresse der mit der Aktion betrauten Zentraldienststelle in der Kanzlei des „Führers“ in der Berliner Tiergartenstraße 4.
Ähnlich wie bei der „Aktion T4“ kooperierte die Justiz auch bei der Verfolgung devianter Menschen bereitwillig mit den Nationalsozialisten und trat gar zusehends Befugnisse und Aufgaben an die SS ab. Die Rolle der Justiz während der NS-Diktatur ist insgesamt eine unrühmliche, wie etwa die zehn Todesurteile des Sondergerichts Feldkirch bezeugen, wobei sich auch hier wieder Schnittmengen mit anderen Bereichen des NS-Verfolgungsapparats ergaben. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Verurteilung und Hinrichtung der Sintizza Anna Guttenberger 1942, wegen „unerlaubten Sammelns“.
In der NS-Forschung gibt es bis heute klaffende Lücken, die vor allem Opfergruppen betreffen, denen in den vorangegangenen Jahrzehnten wenig bis gar keine Aufmerksamkeit zuteil wurde. Ob aus Scham, Trotz oder insgeheimer Zustimmung sei dahingestellt. Seit geraumer Zeit werden diese Lücken jedoch durch verschiedenste Forschungen zu den Schicksalen von Deserteuren, Homosexuellen oder „Asozialen“ geschlossen. Gernot Kiermayrs Arbeit wird als Teil dieser Entwicklung schnell ein unverzichtbarer Bestandteil der Vorarlberger NS-Opferforschung werden. Mit gebotener Professionalität und dem ihm eigenen Fingerspitzengefühl ist es Kiermayr gelungen, die bisher unbekannten Schicksale zahlreicher zu Lebzeiten am Rande der Gesellschaft lebenden Vorarlbergerinnen und Vorarlberger nachzuzeichnen und dem Vergessen zu entreißen.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Dez'23/Jän'24 erschienen.

Gernot Kiermayr: Warum musste Oswald Schwendinger sterben? Die Verfolgung der „Gemeinschaftsfremden“ in Vorarlberg im Nationalsozialismus, Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 18. Vorarlberger Autoren-Ges., 2023, 151 Seiten, broschiert, ISBN 783900754341, € 19,90

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