Emma Rawicz & Gwilym Simcock: Big Visit Peter Füssl · Apr 2025 · CD-Tipp
Der erst 23-jährigen englischen Saxophonistin und Komponistin Emma Rawicz ist es mit ihrem zweiten, beim Münchner Jazz-Label ACT erschienenen Album „Chroma“ vor zwei Jahren mühelos gelungen, ihren Ruf als höchst bemerkenswertes junges Ausnahme-Talent von der Insel über den gesamten Kontinent zu verbreiten. Ihre musikalische Abenteuerlust scheint grenzenlos zu sein, ob im Quartett, mit dem von ihr gegründeten Emma Rawicz Jazz Orchestra, als Solistin des BBC Concert Orchestra und der SWR Radio Big Band, oder nun im Duo mit dem um 20 Jahre älteren, ebenfalls durch seine enorme Vielseitigkeit im Spannungsfeld von Jazz, Klassik und Neuer Musik begeisternden Pianisten Gwilym Simcock. Obwohl sie altersmäßig eine Generation auseinander liegen, haben sie bei denselben Lehrern an der Royal Academy of Music in London studiert und können sich auf gemeinsame musikalische Vorlieben wie Keith Jarrett, Jan Garbarek, Ralph Towner oder britische Jazzer wie John Taylor, Kenny Wheeler oder Norma Winston einigen.
Auf „Big Visit“ feiern sie nun mit sechs, zwischen fünf und knapp zehn Minuten langen Stücken die hohe Kunst des Duo-Spieles, ein gleichermaßen abwechslungsreiches wie emotionsgeladenes Vergnügen. Beide steuerten je zwei Kompositionen bei, die man sich und dem musikalischen Partner auf den Leib geschrieben habe, wie sie im Booklet erwähnen. Simcocks Opener „His Great Adventure“ ist seinem dreijährigen Sohn und dessen Abenteuer- und Entdecker-Lust gewidmet, die ihren musikalischen Ausdruck im lustvollen Überspringen musikalischer Genre-Grenzen zwischen Neo-Romantik, Modern Jazz und Fusion und einer Abfolge zündender Soli findet. Für Gwilyms kraftvoll gehämmertes, hochenergetisches „Optimum Friction“ mit seiner spannungsgeladenen Harmonik wechselt Rawicz vom Tenor- zum Sopransax, das sie nahezu zum Glühen bringt. Nicht weniger expressiv und genussvoll, die unterschiedlichsten musikalischen Einfälle auskostend, fallen die Kindheitserinnerungen von Emma Rawicz aus, betitelt mit „The Drumbledrone“, wie ihre Großmutter im Dialekt von North Davon die Bumblebees bzw. Hummeln nannte. Angesichts der kreativen Unruhe fällt einem dazu der Spruch „Hummeln im Hintern haben“ ein.
Zu „Shape of a New Sun“ ließ sich Rawicz vom Roman „Half of a Yellow Sun“ der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie inspirieren, die als eine der wichtigsten Stimmen des feministischen Postkolonialismus gilt. Das perfekt harmonierende, sich wechselseitig hörbar inspirierende und anspornende Duo konnte sich aber auch auf zwei Fremdkompositionen – Lieblingsstücke der beiden – einigen, die das quirlige Album einigermaßen ruhig ausklingen lassen. Das mit 9.44 Minuten längste Stück des Albums, Simcocks Arrangement von Steve Wonders „Visions“ (von dessen legendärem 1973-er Album „Innervisions“) enthält zwar ebenfalls kraftvolle Passagen, aber auch ein zwischen schwelgerisch und nachdenklich angesiedeltes, mehrminütiges Solo des Pianisten. Mit der stimmungsvollen, von Carl Fischer 1942 geschriebenen und unter anderem von Billie Holiday, Nat King Cole, Sarah Vaughan, Ella Fitzergerald, aber auch von Diana Ross und Joni Mitchell interpretierten Ballade „You’ve Changed“ geht’s dann ins Finale. Die beiden bezeichnen ihr erstes gemeinsames Album im Booklet-Text als „Beginn einer musikalischen Verbindung, die sicher lange anhalten und fruchtbar sein wird“. Würde uns freuen! (ACT)
Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR April 2025 erschienen. Hier geht es zum E-Paper.