Peter Pirker/Ingrid Böhler (Hrsg.): „Flucht vor dem Krieg"
Neues Buch über Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg
Markus Barnay · Mär 2024 · Literatur

Es kommt nicht alle Tage vor, dass der Auftraggeber eines Projektes den Projektleiter in aller Öffentlichkeit zurechtweist. Entsprechend verblüfft war das im Montfortsaal des Landhauses versammelte Publikum im Dezember, als Ulrich Nachbaur, der Leiter des Landesarchivs, während der Präsentation des Buches über die Deserteure der Wehrmacht dem Projektleiter Peter Pirker widersprach. Es ging um das höchst befremdliche, um nicht zu sagen skandalöse Verhalten der Sozialabteilung des Landes Vorarlberg im Umgang mit Opfern der NS-Justiz. Pirker hatte festgestellt, dass in den Opferfürsorgeverfahren nach 1945 sechzig Prozent aller Anträge auf Entschädigung für erlittene Verwundungen oder für den Verlust direkter Angehöriger abgelehnt wurden – meistens mit der Begründung, die Deserteure hätten sich nicht aus politischen Gründen von der Truppe entfernt.

Vom NS-Staat hingerichtet, vom demokratischen Staat gedemütigt

Ein konkretes Beispiel war der Fall von Martin Lorenz: Dieser war im Juli 1944 nach mehrmonatigem Untertauchen gemeinsam mit dem Bruder seiner Verlobten Delphina, Wilhelm Burtscher, im hinteren Großwalsertal festgenommen worden. Bei der Festnahme wurden Wehrmachts-Uniformen mit rot-weiß-roten Armbinden, Waffen sowie Edelweiß-Plaketten mit der Aufschrift „Mein Leben für Österreich“ gefunden. Außerdem tauchte nach einer Vernehmung der beiden ein Schreiben in den Akten auf, in dem einer zukünftigen österreichischen Staatsführung vorgeschlagen wird, nach der Befreiung drei namentlich genannte Nazis zum Tode zu verurteilen. Diese Ausrüstungsgegenstände einer vermeintlichen bewaffneten Widerstandsgruppe sollten den beiden zum Verhängnis werden: Das Reichskriegsgericht unterstellte ihnen eine für den NS-Staat gefährliche Gesinnung und verhängte gegen sie wegen Kriegsverrat die Todesstrafe. Sie wurden am 8. Dezember 1944 hingerichtet, obwohl sie beteuerten, keine konkreten Widerstandsaktionen gesetzt, sondern nur mit dem Gedanken dazu gespielt zu haben.
Als die Mutter von Martin Lorenz, die schon im Ersten Weltkrieg ihren Ehemann verloren hatte und nun völlig verarmt vom Ertrag einer Kuh und einer kleinen Witwenrente lebte, 1948 einen Antrag auf Unterstützung nach dem Opferfürsorgegesetz stellte, leitete die Sozialabteilung der Landesregierung den Antrag an das Sozialministerium in Wien weiter. Von dort kam die Antwort, die Fahnenflucht des Martin Lorenz könne „nicht als Einsatz im Kampf für ein freies, demokratisches Österreich gewertet werden“.
Das Amt der Landesregierung schrieb dieses Argument ohne weitere Recherchen zu den Umständen der Verurteilung von Martin Lorenz in seinen negativen Bescheid. Als es um sein Leben ging, wurde Martin Lorenz‘ Beteuerung einer unpolitischen Fahnenflucht vom NS-Gericht vom Tisch gewischt, als es um eine Entschädigung für seinen Tod ging, wurde ihm von der Nachkriegsbürokratie jede politische Motivation abgesprochen.

Böser Bund, braves Land?

Im öffentlichen Zwist zwischen Projektleiter Pirker und Archivleiter Nachbaur ging es um die politische Verantwortung für dieses Behördenversagen: Nachbaur betonte, dass die Sozialabteilung des Landes in dem Fall nur als „mittelbare Bundesverwaltung“, also im Auftrag des (SPÖ-geführten) Sozialministeriums gehandelt habe, sodass man der (ÖVP-geführten) Landesregierung nicht vorwerfen könne, sie habe schäbig gehandelt. Liest man den Bericht von Peter Pirker, wird allerdings klar, dass sich im Umgang mit NS-Justizopfern weder die eine noch die andere Seite mit Ruhm bekleckert hat. Beide bemühten sich nach Kräften darum, die Opfer noch ein weiteres Mal zu demütigen. Diese Haltung zog sich übrigens bis ins 21. Jahrhundert, denkt man an den Fall des Wehrdienstverweigerers August Weiß aus Dornbirn, dessen letzter Antrag auf Entschädigung in der Landesregierung zwar positiv entschieden, dann aber „verlegt“ wurde und erst auftauchte, als Weiß bereits verstorben war.  

55 Todesfälle und hunderte Fluchtversuche

Der Kern der Forschungen Peter Pirkers und seiner Kolleg:innen betraf aber nicht den Umgang mit den Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern in der Nachkriegszeit, sondern deren Aktivitäten vor 1945. Vier Jahre lang wurde geforscht, erste Ergebnisse wurden schon Anfang letzten Jahres publiziert (siehe „KULTUR“ 2/2023). Jetzt liegt der speziell für Vorarlberg verfasste Projektbericht in Buchform vor, und er bietet neben jeder Menge bislang nicht bekannter Fakten auch eine Art Fleißaufgabe, nämlich die zum Teil umfang- und detailreichen Biografien von 55 Menschen, die ihre „Flucht vor dem Krieg“ mit dem Leben bezahlten, weil sie der NS-Justiz in die Hände fielen oder auf andere Weise – etwa bei einem Fluchtversuch an der Grenze – zu Tode kamen.
Insgesamt 653 Fälle von „Entziehungshandlungen“, also Desertionen oder Dienstverweigerungen, hat Peter Pirker ausfindig gemacht, 256 davon betrafen Vorarlberger, der Rest der Soldaten stammte aus anderen Ländern. Letztere versuchten zumeist, über die Grenze in die Schweiz zu fliehen, während sich die Einheimischen zum Teil auch im Land selbst versteckten. Die „Erfolgsquote“ war denn auch sehr unterschiedlich: Während zwei Drittel der Vorarlberger ihren Verfolgern entkamen, war es unter den „Auswärtigen“ nur ein Drittel. Wo sie herkamen, wie sie zu fliehen versuchten, ob und wie sie überlebten, was mit ihnen geschah, wenn man sie erwischte – all das kann man im Bericht von Peter Pirker nachlesen.

Persönliche Reflexionen

Ergänzt wird der Projektbericht von zwei Fallstudien, die bereits in einem Sonderheft der Zeitschrift „zeitgeschichte“ Thema waren (der Sonderfall Krumbach mit 14 bekannten Deserteuren und der Fall der Brüder Müller, wiedergegeben von Isabella Greber/Peter Pirker bzw. Nikolaus Hagen), und von einer sehr persönlichen Reflexion der Tochter und der Enkelin von Delphina Burtscher, der Schwester bzw. Verlobten der hingerichteten Deserteure Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz aus dem Großwalsertal. Deren Geschichte wird auch in Peter Pirkers Projektbericht ausführlich geschildert, und zwar unter Zuhilfenahme von Gerichtsakten, die als verschollen galten und im Sommer 2023 „an einer entlegenen Stelle“ im Landesarchiv gefunden wurden.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Februar 2024 erschienen.

Peter Pirker/Ingrid Böhler (Hrsg.): Flucht vor dem Krieg. Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg. Mit Fotografien von Flucht- und Zufluchtsorten von Miro Kuzmanovic. UVK Verlag, München 2023, 373 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-381-10511-3, € 22,70

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