Doris Knecht: „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ Annette Raschner · Sep 2023 · Literatur

Über familiäre Geheimnisse und die fatalen Folgen von Frauenverachtung und digitaler Gewalt hat Doris Knecht in ihrem letzten Roman „Die Nachricht“ geschrieben. In „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ geht es weniger dramatisch zu. Die Icherzählerin, eine Frau an einem Wendepunkt, hat beschlossen, über ihr Leben zu schreiben. Das Buch erscheint am 24. Juli im Hanser Verlag.

Sie möchte über ihr Leben schreiben, „und schon ist es ein Krampf“. Die Mutter meint, dass die Erinnerung ein Biest sei, auch die vier Schwestern zeigen sich mäßig begeistert, geschweige denn ihre beiden Töchter. Luzi will gar nicht erst vorkommen, deshalb muss aus ihr ein Sohn namens Max werden.
Sie, das ist selbstverständlich Doris Knecht, möchte man als Leserin meinen. Doch so einfach ist das alles weder mit der vermeintlichen Autobiografie noch mit dem Ich per se, und die Autorin lässt auch eingangs Virginia Woolf zu Wort kommen: „Ich ist nur ein brauchbares Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt. Lügen werden über meine Lippen fließen, aber vielleicht hat sich ein bisschen Wahrheit daruntergemischt; es liegt an Ihnen, diese Wahrheit ausfindig zu machen und zu entscheiden, ob irgendetwas daran bewahrenswert ist.“
Klar, Doris Knecht hat in ihren Kolumnen bereits des Öfteren über ihre Kinder und ihr Familienleben geschrieben. Und – ja, sie hat wirklich Zwillingstöchter. Aber sie zweifelt selbst an ihrer Erinnerungskraft. „Ich puzzle mir meine Kindheit aus den Fotos in den Alben meiner Eltern zusammen.“ Die Familie kommt gerne zusammen, um, über Alben gebeugt, zu diskutieren, was denn nun wirklich so oder doch ein wenig anders passiert ist. „Wir streiten über jedes einzelne Bild, über den Tag, über den Ort, über die Leute im Bild, über die Leute, die nicht im Bild sind, wir streiten uns eine Erzählung zu dem Bild zusammen, unser Leben als Kinder, unsere Vergangenheit. Die Erzählungen sind nicht immer gleich.“

Schreiben zur Selbstvergewisserung, Schreiben als intime Selbstbefragung

Doris Knecht stellt sich immer wieder Fragen. Kann das überhaupt stimmen? Erinnere ich mich richtig? Und die Leserin wiederum fragt sich: Wo flunkert sie, die gewiefte Autorin und Kolumnistin Doris Knecht, und wo erzählt sie „die Wahrheit“?
Die Icherzählerin ist jedenfalls Besitzerin eines Hundes, der ständig ins Auto kotzt, darüber hinaus hat sie Zwillingstöchter und vier Schwestern, die wiederum Zwillingsgeschwister sind und im Gegensatz zu ihr „spektakuläre blonde Zöpfe“ und blaue Augen haben. „Ich war immer das Mädchen in der Bomberjacke, die mit Gaffer geflickt war.“ Sie ist die Älteste der fünf, die Unangepasste, Unsichtbare und Überempfindliche. „Ich musste mein Zuhause verlassen und fast siebenhundert Kilometer wegziehen, um sichtbar zu werden und festzustellen, dass ich eine ganz normale, durchschnittlich attraktive Frau bin, nicht auffällig schön, nicht hässlich.“

Zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, zwischen erwachsen und alt

So kennt man Doris Knecht, die keine Scheu davor besitzt, die Untiefen des Alltags mit ihrem fein austarierten, unprätentiösen Stil und dem eigenen Humor, einer reizvollen Mischung aus Sarkasmus, Melancholie und Unverblümtheit, in den Blick zu nehmen. Der Hanser Verlag nennt das Buch zwar einen Roman, aber die Kapitel könnten genauso einzelne Kolumnen sein – sei´s drum! Die Icherzählerin ist jedenfalls zu Beginn von einer latenten Verunsicherung geplagt. Sie verabscheut Veränderungen, aber die kommen gerade unweigerlich auf sie zu. Denn die beiden Kinder sind kurz davor, auszuziehen. Etwas Wehmut klingt durch, bruchstückhafte Erinnerungen tauchen auf: An die vielen Reisen, als man noch jung war. An die erste gemeinsame Wohnung als Familie, als es noch keine Scheidung gab. Sichten, ordnen und entrümpeln sind angesagt. „Wir befinden uns in einer Art Limbus einer verwaschenen Zwischenwelt ohne erkennbaren Horizont: die Zwillinge zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, ich zwischen erwachsen und alt, wir alle zwischen dieser Familienwohnung und unseren neuen Lebenssituationen.“

Die vielen Zumutungen einer Alleinerzieherin

Beim Lesen der Kapitel (oder Kolumnen) geschieht etwas Faszinierendes: Man fühlt sich direkt angesprochen und manchmal auch in der Gemeinsamkeit einiger Erfahrungen gestärkt und getröstet. „Ich bin überfordert“, gibt die alleinerziehende, berufstätige Mutter von zwei Kindern offen zu, schildert anschaulich, wie sie immer mit Kopfhörern schrieb, „die das Familienleben, das um mich herum ablief, zu einem Stummfilm machten“, um nach der Trennung vom Gefühl des Alleingelassenseins mit allem zu erzählen. Und von der Überraschung, weil sie es sich ganz anders vorgestellt hat. „Die Angst, zu fallen: Hinter mir würde keiner mehr stehen, um mich aufzufangen, da wäre nur noch leerer Raum über hartem Grund.“ Und: „Vielleicht gibt es so was wie Horizont einfach nicht für Frauen wie mich.“ Sätze wie diese bleiben hängen.

Ein Leben im Kleinen

Immer wieder hadert die Icherzählerin, die sich zur Lebensform der Solitude, die mit Einsamkeit nichts zu tun hat, bekennt, mit ihrem Leben als Alleinerzieherin, die 35 Jahre gearbeitet hat, erfolgreich war und sich trotzdem jetzt den Ort, wo sie so lange gelebt hat, nicht mehr leisten kann. Sie konstatiert: „Wahrscheinlich denkt niemand, dass es einen selbst treffen könnte. Bis man mit der Niederlage konfrontiert ist, mit dem Ergebnis der eigenen Erfolglosigkeit, falscher Lebensplanung, letztlich: dem fundamentalen Scheitern in einer Gesellschaft, die nur ständige Maximierung als Erfolg akzeptiert, nicht das Reduzieren, nicht ein Leben im Kleinen, Überschaubaren.“
Aber dieses Leben im Kleinen schildert Doris Knecht großartig authentisch und anschaulich. Manche Kapitel liest man etwas rascher und oberflächlicher, bei anderen lässt man sich mehr Zeit. Um zwischendurch dann wieder herzhaft lachen zu können: „Ersatzweise fand ich einen Mann, den ich dann auch wieder verlor, oder besser, irgendwann absichtlich liegen ließ.“ Und am Ende freut man sich mit der Protagonistin, die in ihrer neuen Einzimmerwohnung ohne Kinder ehrlich zu sich sagen kann: „Ich bin angekommen, so ist es gut.“

Annette Raschner ist Redakteurin im ORF-Landesstudio Vorarlberg.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Juli/August 2023 erschienen.

Doris Knecht: Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe. Hanser, Berlin 2023, 240 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-446-27803-5, € 24, das Buch erscheint am 24.7.23

Lesung am 20.9., 20 Uhr
Spielboden Dornbirn
https://www.spielboden.at/

Teilen: Facebook · E-Mail