Doppelte Böden und ein Kreis aus Licht
Wolfgang Hermann: „Der Garten der Zeit“
Annette Raschner · Sep 2023 · Literatur

Nachdem uns Wolfgang Hermann zuletzt in der Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ mit einer außergewöhnlichen Frau vertraut gemacht hat, nimmt er uns nun mit auf eine Reise durch einen imaginären Garten, in dem die Zeit aufgehoben scheint. „Der Garten der Zeit“ ist ein Buch mit poetischen Miniaturen und atmosphärischen Sprachbildern, begleitet und in Szene gesetzt durch Zeichnungen von Timna Brauer.

„Der Garten der Zeit ist ein Kreis aus Licht. Er dreht sich unmerklich, und in der Drehung zeigen sich gefächerte Welten, wobei eine nichts von der anderen weiß.“
Es ist das Kaleidoskop eines mehrdimensionalen Gartens, mit dem Wolfgang Hermann einen Bogen zu seinen beiden ersten Büchern „Das schöne Leben“ (1988) und „Die Namen die Schatten die Tage“ (1991) schließen wollte. Vor allem, was die Form anbelangt.
„Hügel sind die Höcker eines schlafenden Tiers. Sie steigen und sinken mit seinem Atem.“ Wolfgang Hermann ist ein Meister der in sich gekehrten Beobachtung. Seine Texte schärfen den Blick und laden zum genauen Hinsehen ein. Manchmal sind es nur wenige Sätze, dann wieder Textpassagen, die den Anfang einer Erzählung bilden könnten. Immer sind es stark verdichtete Erfahrungen und Eindrücke: Feinsinnig, tiefgründig, poetisch, originell.

Geduldiger Flaneur

„Die Pappel liebt die Morgenbrise, sanft klappern ihre Blätter und zeigen ihre Silberseite. Federleichtes Säuseln in der Krone des Essigbaums; wenn der Wind anhebt, wird es für lange Augenblicke zum Rauschen. Die Kastanie lässt sich davon wenig beeindrucken; langsam wiegen ihre Äste auf und ab, ehe ihre Blätter sich bewegen. Sie schreibt etwas, doch so langsam, dass keiner die Geduld hat es zu lesen.“ Oh doch: Wolfgang Hermann besitzt diese Geduld. Seine Beobachtungen erwandert, ergeht, erschaut er sich. Es sind kleine literarische Kostbarkeiten aus der Feder eines leidenschaftlichen Flaneurs.
„Jetzt umschließt mich die Stadt mit ihren Stimmen und ungezählten Gesten. Ich atme sie ein und finde mich im Inneren der Feder wieder.“ Gärten faszinieren Wolfgang Hermann schon lange. Sie sind für ihn Paradiese, Inseln der Zuflucht und Regeneration; Orte, an denen die Seele frei fliegen kann, sowie auch Orte der Erinnerung. „In der kleinen Landschaft seiner Vergangenheit schneit es einen stehenden Augenblick lang, über den sich still ein Dachgiebel wölbt, unter dem die Augen eines kleinen Jungen den Schnee endlos fallen sehen.“ Der geheimnisvolle, imaginäre, mehrdimensionale Garten der Zeit ist ein Schutzraum. In ihm gedeiht Leben, das draußen nicht bestehen kann. Es gibt darin Zeitverstecke, in denen sich die vergessene Zeit aufhält und Zeitgeschenke, wie das Lachen von Kindern oder das Summen einer Hummel. Der Garten beherbergt Geschöpfe, die sowohl Pflanzen als auch Menschen sind. Die Übergänge sind fluid, und der Autor stellt existenzielle Fragen. Welche Blüte fragt nach einer Erklärung? Wohin geht die vergessene, die nicht aufgebrauchte Zeit? „Sie sammelt sich in verborgenen Kammern und bildet dort Zeitverstecke. Das sind die doppelten Böden des Gartens. Die verborgene Zeit kann zum Anstückeln von Wirklichkeit verwendet werden, wenn es an ihr mangelt. So zum Beispiel, wenn der Tag abreißt und eine Lücke hinterlässt.“
Leben und Tod, Licht und Schatten. Wolfgang Hermanns Sprachbilder trotzen der Vergänglichkeit, indem er die Schönheit von Farben und Formen festhält; mit einer Behutsamkeit und Zärtlichkeit, die einem manchmal die Tränen in die Augen treibt.
„Augen auf Blättern, Zähne auf Zweigen, Finger wie Schlingen, Flügel aus leuchtendem Regenwasser. Die Gewächse des Gartens fließen zwischen den Formen.“
Wolfgang Hermann und auch Timna Brauer mit ihren feingliedrigen, zarten Illustrationen lassen die vergehende Zeit für einen Moment stillstehen. Sie huldigen dem Leben in all seiner Rätselhaftigkeit, in seiner Schönheit, aber auch in seinem Schmerz.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR September 2023 erschienen.

Wolfgang Hermann: Der Garten der Zeit. Mit Zeichnungen von Timna Brauer. Czernin Verlag, Wien 2023, 120 Seiten, Hardcover, ISBN 978 3 7076 0815 1, € 20, erscheint am 30.8.

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