Dietmar Schlatter: „In meinem jungen Leben“
In seinem neuen Roman arbeitet Dietmar Schlatter die 1970er Jahre auf.
Karlheinz Pichler · Jun 2023 · Literatur

Als Roman, der das Lebensgefühl der jungen Generation in den 1970er und frühen 1980er Jahren in Westösterreich ultimativ einfängt, möchte man den neuen Roman „In my young life“ des 1963 in Bludenz geborenen Montafoner Autors Dietmar Schlatter bezeichnen. Dazu folgende Ausgangssituation, die für das Stimmungsbild wohl nicht unwesentlich ist: Im Jahre 1972 war Vorarlberg zum ersten Mal Schauplatz der Randspiele, eines damals visionären Festivals mit Kunst, Musik, Literatur, Film und Theater, das sich gegen das sogenannte Establishment richtete und die ultrakonservativen Strukturen, die für das Land bestimmend waren. Der Hunger nach zeitgemäßer Kultur war so groß geworden, dass sich eine Gruppe junger Menschen zu den „Vorarlberger Kulturproduzenten“ zusammengeschlossen hatte, um selbst das zu realisieren, was ihnen im offiziellen Kulturprogramm vorenthalten wurde.

Von 1972 bis 1976 schafften sie es, neben regionalen Kunst- und Kulturschaffenden auch international bekannte Größen wie etwa Chick Corea, Jan Garbarek, Ralph Towner oder Friedrich Gulda auf die hiesige Bühne zu holen. Die Randspiele schabten mächtig an den gesellschaftlichen Verkrustungen des Landes, aber um das Korsett komplett aufzusprengen, benötigte es noch viele Jahre.
Aber immerhin, in diese ersten Öffnungsphasen hinein, in denen vor allem auch die internationalen Musikströmungen eine zentrale Rolle in den Emanzipations- und Abhalfterungstendenzen spielten, fallen die Kindheits- und Jugendjahre von Dietmar Schlatter. Der gesamte Roman „In my young life“, ein 640-Seiten-Wälzer, ist denn auch gespickt mit eingeschobenen Lyrics, die die Songs von den Beatles bis zu Led Zeppelin, von den Doors bis zu Jethro Tull oder den Rolling Stones referenzieren. Diese Eincollagierung von Liedtexten ist ein wichtiges Mittel, um die Kraft und Energie, die die Jugend in die Suche nach Sinn und Selbstverwirklichung steckt, symbolisch ständig bei der Stange zu halten.

On the road

Schlatters Roman „In my young life“ ist im Kern ein autobiografisch gefärbter Entwicklungsroman, der fiktional angereichert ist. Er lebt von zwei Handlungssträngen, die sich ständig abwechseln. Einerseits vom Bericht einer mehrmonatigen Reise, die den Ich-Erzähler im Alter von neunzehn Jahren für mehrere Monate nach Frankreich geführt und ihn nachhaltend geprägt hat. Andererseits von der Aufarbeitung der Kindheitsjahre, die der Protagonist in Schruns und im Tiroler Ötztal erlebt hat und die er in Rückblenden detailgenau schildert. Aufgrund der biografischen Angaben lässt sich ablesen, dass „Dietmar“ im Frühjahr 1982 von Genf aus, wohin ihn Freunde aus dem Ländle mit dem Auto hingeführt hatten, losgetrampt ist. „Mir war unwohl zumute. Ich starrte in die Runde, fühlte mich nicht mehr dazugehörig,“ heißt es gleich zu Beginn des Romans. „Ich muss!“, sagte er zum Abschied und zog los.
In einem ausführlichen Inhaltsverzeichnis sind die einzelnen Etappen der Reise, die er mit 500 Schilling in der Tasche, die er nie angerührt hat, begonnen hatte, in Fettschrift und geografisch gut nachvollziehbar aufgelistet. Über Genf, Annemasse, Grenoble führte der Weg nach Cannes, Arles und Avignon und natürlich auch nach Taizé, das vor allem durch die ökumenischen Jugendtreffen bekannt ist, deren Besuch bei vielen Jungen im Pflichtenheft steht.
Da er seinen Lebensunterhalt unterwegs durch Betteln sicherte, musste „Dietmar“ immer wieder entbehrungsreiche Phasen durchlaufen mit oft tagelangem Hungern. Auf sich selbst zurückgeworfen, machte er zentrale Lebenserfahrungen. Schlechte und Gute, Mangel und Überschwang, Einsamkeit und Gemeinsamkeit. Liebe und Zuneigung. Letzteres etwa auf einem kommunenartig geführten Gemeinschaftshof in La Flayssiere. „Morning has broken like the first morning …“ ist hier denn auch ein Liedtext von Cat Stevens eingeschoben.

Rückblenden

In die Reiseberichte wie Filmschnitte eingebettet sind die Rückschauen auf die Kindheits- und Jugendjahre. Für diejenigen, die in derselben Zeit aufgewachsen sind, erreichen diese Schilderungen eine enorme Authentizität. Das Durchlaufen der Kindergartenzeit, Volksschule, Mittelschule, Ministrantenzeit, Bandengründungen etc. wird in plastischen, tagebuchartigen Bildern dargelegt. Dass reale Menschen direkt beim Namen genannt werden, wie etwa Ingrid Gföllner oder Annemarie Pröll, verstärkt die autobiografische Diktion zusätzlich.
Dem Autor zufolge hat er immer ein Tagebuch geführt. Zwar sei ihm dieses infolge von Umzügen abhandengekommen, aber schon das Schreiben an den Aufzeichnungen habe ihm vieles in Erinnerung gehalten. Vieles sei aber auch rein fiktional. Die vielen Dialoge etwa, die im Buch vorkommen, seien natürlich erfunden.
Mit der Ausführlichkeit, mit der Dietmar Schlatter den Alltag in seiner Kindheit und Jugend ausbreitet, inklusive den gesellschaftlichen Bedingungen und den Riten und Bräuchen des Jahreslaufes, wird dieser Roman zu einem wertvollen Zeitdokument. Und aufgrund des Handlungsreichtums und der schnörkellosen Sprache ist das Buch zudem spannend zu lesen.
Nach den Romanen „Die Kinder“ und „Die Töchter“, in denen Dietmar Schlatter anhand einer Dilogie die Geschichte seiner Familie über mehrere Generationen hinweg aufarbeitet, ist mit „In my young life“ nun bereits seine dritte Prosapublikation erschienen. Was das Schreiben anbelangt, wolle er nun eine Pause einlegen und sich wieder voll auf die Theaterarbeit konzentrieren, leitet er doch die Theatergruppe „Treff.Theater Schruns-Tschagguns“, sowie die Schüler-Theatergruppe der VMS Bludenz.

Nacht der Literatur und Musik in der Artenne Nenzing

Dietmar Schlatter wird übrigens am Samstag, den 17. Juni (18.00 bis 21.30 Uhr) im Rahmen der diesjährigen „Nacht der Literatur und Musik“ in der Artenne Nenzing aus seinem neuen Roman lesen. Auch Wolfgang Hermann, von dem erst kürzlich das von der internationalen Presse gefeierte Buch „Bildnis meiner Mutter“ erschienen ist, wird an dieser Veranstaltung partizipieren. Desweiteren auch die aus dem Südtirol stammende, heute im bündernischen Zernez lebende und arbeitende Schriftstellerin, Dramaturgin, Drehbuchautorin, Regisseurin und Liedermacherin Selma Mahlknecht. Mit dabei zudem auch die Publizistin, Musikwissenschaftlerin und Autorin Sabine Grohs sowie die Vorarlberger Jungautorin Katharina Klein, der eine große literarische Zukunft vorausgesagt wird und die derzeit ein Stipendium im italienischen Carrara absolviert.

Dietmar Schlatter: In My young Life. Bucher Verlag, Hohenems 2023, 640 Seiten, ISBN 978-3-99018-655-8, € 29

Lesung v. Dietmar Schlatter
Im Rahmen der diesjährigen „Nacht der Literatur und Musik“
Sa, 17.6., 18.00 Uhr
Artenne, Nenzing

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