Die Schiefmalerin
Brigitte Herrmann: „Die Suche nach der eigenen Farbe – Das widersprüchliche Leben der Malerin Stephanie Hollenstein“
Ingrid Bertel · Apr 2025 · Literatur

Avantgardistin dient sich den Nazis an. Die Frau heißt Stephanie Hollenstein. Ihr widmet Brigitte Herrmann nun die Romanbiografie „Die Suche nach der eigenen Farbe“. „Ich bin jemand, und die Welt muss das begreifen.“ Mit diesem hochmütigen Satz aus dem Mund von Stephanie Hollenstein beginnt die Romanbiografie. Seit Leben und Werk der 1886 in Lustenau geborenen Malerin weitestgehend erforscht und im Dock 20 erstklassig dokumentiert sind, wird Hollenstein zunehmend zum Faszinosum für Dokfilm, Bühne und Literatur.

Wie wird die offenbar begriffsstutzige „Welt“ begreifen, dass Stephanie Hollenstein „jemand“ ist? Die Ärztin Franziska (Groß) hätte da einiges zu erzählen. Sie war Hollensteins langjährige Geliebte und erinnert sich 1972 nochmals an die spannungsgeladene Beziehung. Der Beginn jedes Romankapitels gehört ihr. Meist wählt sie ein Gemälde Hollensteins, um über die Freundin nachzudenken: „Dein ,Van-Gogh-Bild‘ hast du es immer genannt“, schreibt sie über „Blockhaus im Wald“ (1916) „und deine Antwort auf August Macke“.  Stark vereinfachte Formen und expressive Farbwahl beweisen bei diesem 1916, mitten im Ersten Weltkrieg entstandenen Gemälde, wie intensiv sich Hollenstein mit der Malerei ihrer Zeit auseinandergesetzt hat, wie weit sie sich von regionaler Genremalerei entfernte. „Schiefmalerin“ nannte man sie in Lustenau, weil sie wie die Expressionisten die traditionellen Regeln der Perspektive verließ. Franziskas behutsamer Annäherung an die Künstlerin folgt in jedem Kapitel die auktoriale Erzählperspektive entlang der Stationen der Biografie Hollensteins. Es ist eine Biografie, die es in sich hat. 

„Mädchen, das eine Kuhherde treibt“ 

Stephanie Hollenstein, fünftes Kind einer armen Familie von Bauern und Stickern, kann ein Studium an der Königlichen Kunstgewerbeschule in München absolvieren, zieht als Mann in den Ersten Weltkrieg und erlebt als Mitglied der NSDAP den Höhepunkt ihrer Laufbahn. Wenn man etwas aus großer Entfernung betrachtet, erkennt man die Grundstrukturen. Je näher man einer Sache aber kommt, umso komplexer wird sie. Das gilt auch für Romanfiguren. Brigitte Herrmann wählt eine Distanz, die ihr eine neutrale Haltung zur unglaublich ambivalenten Persönlichkeit Stephanie Hollensteins erlaubt. Können wir uns so die Konflikte, die diese Frau bewältigen musste, besser vorstellen? Ergibt sich ein Bild, das den Spannungen in diesem Leben entspricht?
Stephanie Hollenstein ist lesbisch und hat bereits als Studentin zahlreiche Liebschaften. „Das war damals hart für Laura – und später für mich“, schreibt Franziska in der Einleitung zum entsprechenden Kapitel. „Du hast dir Freiheiten genommen, die du uns nicht zugestanden hättest.“ Was bedeutet es für eine 19-Jährige, offen zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen, wenn diese kriminalisiert wird? Aus ihrer neutralen Distanz heraus, stellt sich diese Frage für Brigitte Herrmann kaum. Da erzählt sich Hollensteins Studentinnenzeit im Stil betulicher Mädchenbücher von anno dazumal. Man denkt an „Hanni und Nanni“ oder „Der Trotzkopf“.

„Kopf eines Soldaten“ 

Der von Stephanie Hollenstein bewunderte Lehrer Franz Defregger malt Genreszenen mit wohlgenährten, in gebügelte Trachten gekleideten Salontirolern, und Stephanie Hollenstein überlegt: „Niemand würde sich ein Bild von ihrer Kindheit an die Wand hängen. Die Menschen wollten eine bessere Meinung von sich und ihrer Umgebung, also musste das Elend ausgespart bleiben.“ Trotzdem malt sie eben keine Kitschbilder. 
Sie kann aufgrund einer Empfehlung Franz Defreggers (und mit finanzieller Unterstützung durch die Vorarlberger Landesregierung) eine Italienreise machen, lernt Künstler der futuristischen Bewegung kennen und setzt sich damit auseinander, „dass Kunst nicht nur gefallen sollte, sondern dass Kunst auch politisch war.“ Was das bedeutet, scheint Brigitte Herrmann allerdings nicht weiter zu interessieren. 
1914 zieht die Künstlerin als Standschütze Stephan Hollenstein in den Krieg, gedeckt von ihren Kameraden und bewundert von Freunden und Familie. Nach ihrer Enttarnung wechselt sie ins Kriegspressequartier zu sogenannten „Kunstschwadron“. Sie wird zu offiziellen Missionen an der Dolomitenfront eingesetzt. Es scheint eine überaus produktive Zeit, in der zahlreiche Zeichnungen, Aquarelle und Ölbilder entstehen: Portraits, die alles eher als Kriegsbegeisterung zeigen, verwundete, sterbende Soldaten, Lazarette, Unterstände, und dabei meidet sie die konservative Stilistik von Kollegen wie Albin Egger-Lienz.

„Falzarego in den Dolomiten“

Ein dominantes Motiv sind die Berge – die Dolomiten zumal, die bis 1919 zur Monarchie gehörten. Stephanie Hollenstein ist eine begeisterte Bergsteigerin. Ihr gelingt, zusammen mit dem ehemaligen Frontkameraden, dem „Zimbapfarrer“ Gebhard Wendelin Gunz, die Erstbesteigung des Zimba-Ostgrats. Allerdings sind in der Zwischenkriegszeit die Berge ein militaristisch, antisemitisch und nationalistisch besetzter Topos. So ist in den Filmen mit Leni Riefenstahl oder den Aktivitäten des Alpenvereins ständig vom „Kampf um den Berg“ die Rede, einem Kampf, der nur dem „Germanen“ den „Sieg über den Gipfel“ erlaube. 
Es sind in erster Linie ihre Bergbilder, die für den Erfolg Stephanie Hollensteins im Nationalsozialismus sorgen. Die Legende vom heldenhaften Widerstand im Krieg ist weit verbreitet und kommt der NS-Propaganda sehr entgegen. 1939 ist Hollenstein in der von den Nazis gefeierten Ausstellung „Berge und Menschen“ vertreten. Sollte man das Bild „Falzarego in den Dolomiten“ (1932) als politisches Statement verstehen? Jedenfalls entspricht Hollenstein dem NS-Narrativ vom „reinrassigen“ Dorfkind, aus dem die „Volksseele“ spricht und nicht die korrupte städtische Zivilisation. Obwohl sie den Großteil ihres Lebens in Wien verbrachte, kommt die urbane Lebenswelt in ihrem Werk nicht vor. Ihre Landschaftsbilder aber passen zur Mär von der „heimatlichen Scholle“, wo die angeblich „Einheimischen“ ihren althergebrachten Tätigkeiten in vorindustrieller Zufriedenheit nachgehen. Dass auch Hollensteins Familie in der mechanisierten Stickerei ihr Einkommen erwirtschaftete, das kam weder in der Nazi-Ideologie noch in den Bildern von Stephanie Hollenstein vor. Brigitte Herrmann, die einen Akzent auf die Fabrikarbeit der Schwestern Hollensteins legt, ignoriert diese Tatsache.

„Allerseelen“

„Die Frau kann auch als Künstlerin nicht zeugen, nur gebären.“ Solchen Blödsinn musste sich Stephanie Hollenstein wohl bis zum Überdruss anhören. Sie gehörte zu den Gründerinnen der als radikal und links bezeichneten Vereinigung „Wiener Frauenkunst“. Vom Bildhauer Albert Bechtold wurde sie zur Künstlervereinigung „Der Kreis“ eingeladen, einer Gruppe von Künstlern aus dem Bodenseeraum. „Verkaufstechnisch hatte sie keine Angst, aber künstlerisch, das sah Stephanie sofort, waren sowohl Wacker als auch Bechtold weiter gegangen als sie.“
Was bedeutet dieses „weiter gegangen“? Man könnte eines ihrer Blumen-Stillleben, etwa „Allerseelen“ neben eines von Rudolf Wacker stellen. Dessen morbide Herbststräuße spielen unterschwellig auf drohendes Unheil an. Seine bis ins Unwirkliche gesteigerten Farben zerstören den ersten Eindruck eines Idylls. Brigitte Herrmann aber löst die Privatperson Stephanie Hollenstein aus ihrem künstlerischen Umfeld heraus, und was „weiter gegangen“ bedeutet, bleibt nebulos.
Dabei erzählt Herrmann durchaus, wie engagiert sich Hollenstein für Bechtold einsetzte, als er für das Kriegerdenkmal in Lustenau „eine Bronzestatue im kubistischen Stil […] eine trauernde, kantige Frau“ entwarf. Vor dem Gemeinderat verteidigt sie den Bildhauer, erzählt, „dass sie nie wieder einen Krieg erleben wolle […]. Sie versuchte zu erklären, warum der Entwurf von Bechtold wegweisend war, gerade weil er keine Krieger zeigte, den Krieg nicht verherrlichte.“

„Monte Cristallo“

Wie wird diese Frau zur Nationalsozialistin? Bei Brigitte Herrmann ist der Auslöser dafür die Vergewaltigung durch Männer der Heimwehr. Hollensteins Antisemitismus, ihren Neid auf alle, die eine bessere Ausbildung bekommen haben, die dank ihres finanziellen Hintergrunds nicht auf künstlerische Kompromisse angewiesen waren, um verkaufen zu können, deutet sie nur an, um dann unvermittelt zu erzählen, wie Hollenstein als Präsidentin der neu geschaffenen „Vereinigung Bildender Künstlerinnen“ die „Arisierung“ des Vereins betreibt. „Wer austreten musste, weil er keinen Ariernachweis vorweisen konnte, wurde von Stephanie an die neu gegründete ,Zentralstelle für jüdische Auswanderung‘ geschickt. Das System, viele Juden zur Auswanderung zu zwingen, fand Stephanie gut, und sie war beeindruckt von der Effizienz der ,Zentralstelle‘.“
Brigitte Herrmann lässt die Malerin in Reue über ihre politische Haltung sterben – einer Reue, die, wie sie im Nachwort schreibt, durch nichts belegt ist, allerdings zur Erzählhaltung Herrmanns passt, einer Haltung, die Hollenstein auf das Private reduziert. Und das ist schade.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR April 25 erschienen.

Brigitte Herrmann, Die Suche nach der eigenen Farbe – Das widersprüchliche Leben der Malerin Stephanie Hollenstein. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2025, 432 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-8392-0772-7, € 19,40, erscheint am 9.4.25

Lesung: Do, 24.4., 19.30 Uhr
T-Café, Landestheater; Bregenz
www.landestheater.org

 

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