Die Moral des vergesslichen Goldfisches
„Memoiren eines Goldfisches“ von Simon Ludescher
Florian Gucher · Dez 2023 · Literatur

Wie sieht es aus, wenn der für sein schlechtes Gedächtnis bekannte Goldfisch Memoiren schreibt? Die Antwort darauf gibt Jungautor Simon Ludescher mit seinen Kurzgeschichten, die von skurrilen Schatzsuchern, polizeilichen Christbauminspektionen und magischen Felsbildern erzählen. Mittendrin: unterirdische Keller mit geheimen Gängen, Waschbären, die sich als Pandas tarnen und Städte, in denen man für Frischluft tief in die Tasche greifen muss. „Memoiren eines Goldfisches“ ist ein lustvolles Fantasieren zwischen Traum und Wirklichkeit mit einer Portion Moral als Draufgabe.

Anekdoten des Lebens sind Simon Ludeschers Rezept, um Geschichten zu erzählen. Zu Beginn des Buches ist da ein Protagonist, der fälschlicherweise eine Lichtleuchtstoffröhre für Terrarien gekauft und in seinem Badezimmer montiert hat, wobei sich die Kammer dann imaginativ in eine Nasszelle für Kriechtiere verwandelt: „Hatte meine Freundin mich nicht erst kürzlich als Kaltblüter bezeichnet, als ich meine eisigen Füße in ihre Hälfte des Bettes gestreckt habe?“, spinnt der Protagonist den Gedanken weiter. Als er sich – durchaus in Analogie zu Kafkas „Verwandlung“ – selbst als ausgewachsenen Leguan sieht, sind wir in einem Dunstkreis angelangt, der Realistisches in Fiktion gleiten lässt und nicht mehr so weit vom Kafkaesken entfernt liegt. Dieses Element zieht sich durch den Erzählband hindurch, zumal es hier durchaus Geschichten gibt, die wiewohl in locker-flockige Erzählweise gestülpt, bedrohlich und unheimlich – fast schon wie eine Zukunftsdystopie – wirken. Mal ist von einer Stadt mit deaktivierter Schwerkraft die Rede, in einer anderen muss man für eine für den Schlaf unentbehrliche, im Automaten erhältliche Frischluft-Sauerstoffflasche bezahlen. Ludescher hat seinen Spaß daran, Dinge aus den alltäglichen Sphären zu reißen und anders zu denken, ja wie es im Buch heißt „in einem neuen Licht zu sehen“.

Die Liebe zur Kurzgeschichte

Der 1990 in Feldkirch geborene Autor, der in Innsbruck Religion und Englisch studiert hat, hat mit „Memoiren eines Goldfisches“ sein Debüt vorgelegt. Anlass dazu war ein vom Verlag story.one ausgeschriebener Wettbewerb. Eine Sammlung an von ihm verfasster Kurzgeschichten in englischer Sprache nahm er zum Ausgangspunkt dafür: „Ein Drittel des Buches sind bereits geschriebene, nochmals von mir bearbeitete Texte, der Rest war als Idee da oder wurde neu geschrieben“, so der Autor. Das Resultat ist ein Band lose zusammenhängender Geschichten, wobei keine der Storys die Anzahl von drei Seiten überschreitet: „Ich wollte das Format auch ein wenig ausloten“, so Ludescher. „Memoiren eines Goldfisches“ ist auch die Rückkehr des Autors zu den Schreibwurzeln: Der sich in den letzten Jahren stark im Poetry Slam engagierende Schreiber – er gewann 2022 die Vorarlberger Landesmeisterschaft – ist heute für seine lyrisch-humoristischen Bühnentexte sowie Slams bekannt: „Das Prägnante, das auch nach dem Lesen noch für eine Zeit nachwirkt, ist mein Ding.“

Die Kunst des Erzählens

Absurde Gedankenspiele findet man im Buch genügend. Manche der Geschichten setzen am Alltag an, spinnen sich weiter fort ins Abstruse. Das kann dann ein unter der Garage liegender Tiefenkeller sein, der im Fantasiegespinst des Protagonisten in eine Lagerhalle eines vergessenen Spielwarengeschäftes, eine Kaverne oder eine Welt aus Ruinen verwandelt wird. Andere Erzählungen kommen wie surreal anmutende Episoden eines Traumes daher, die mal voller Luftschlösser und Illusionen sind, in anderem Falle jedoch eher wie Orwells „1984“ wirken. Man nehme nur die beiden bereits erwähnten Städte als Beispiel. In dem Zusammenhang lässt sich auch gut und gerne eine Parallele zu Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“ ziehen: Auch hier geht es um die Ausflucht in ein Traumreich, das sich von anfänglicher Schönheit und Inspiration in eine Horrorvision steigert und im Falle Kubins sogar im apokalyptischen Niedergang sein Ende findet. Gut, soweit kommt es bei Ludescher nicht, der Protagonist ergreift vorher die Flucht: „In einer Stadt, in der die Menschen zu faul zum Fliegen waren, wollte ich nicht bleiben“, so gegen Ende der Erzählung „Die fliegende Stadt“. An anderer Stelle spricht die Erzählerstimme von ganz gewöhnlichen Dingen wie Fernsehgeräten oder Büchern, die von einem fast kindlichen Zauber beseelt sind, der dann mit dem Erwachsenwerden endet. Viele der Geschichten tarnen sich, ja zeigen sich in anderem Gewande und müssen entschleiert werden, wie der abrupt auftauchende Waschbär im Panda-Kostüm mit schwarzem Hoodie in „Der Überfall des kleinen Pandas“. Zeitgleich zeigt Ludescher auf, dass scheinbare Nebensächlichkeiten so aufgebauscht werden können, dass sie spannende Wendungen erfahren: „Manchmal sind Geschichten einfach interessanter, wenn sie dem nicht begangenen Weg folgen und in eine alternative Realität führen“, so ein Zitat aus dem Vorwort. Vieles beginnt in kleinen Randbemerkungen, schlägt aber individuelle Wege ein. Banal ist auch die zu einer Geschichte weitergesponnene Tatsache, auf den Weihnachtsbaum das Etikett an Stelle des Weihnachtssternes zu kleben, um für jede:n sichtbar zu machen, dass es sich um keinen im Wald gestohlenen Baum handle. Weitaus weniger banal ist schon der Fakt, dass dieses Etikett die Rettung sein kann, wenn plötzlich die Polizei aufgrund eines Christbaumdiebstahls vor der Tür steht.
Verwelkte Blumen erfahren am Grab einer verstorbenen Blumenhändlerin neues Leben in voller Blüte. Eine mysteriöse Vertauschung des Gepäckes am Flughafen zwischen Ukulele und Schreibblock nimmt Einfluss auf zwei Karrieren – die eine wird Musikerin, der andere Schriftsteller. An anderer Stelle tauchen an Felswänden eingeritzte Petroglyphen auf, die den Protagonist:innen Weisheit schenken: „Die meisten Geschichten verbindet zumindest die Idee, dass etwas Magisches dahinterstecken könnte“, so der Autor.
„Memoiren eines Goldfisches“ ist der Versuch, halbfiktive, fiktive und nichtfiktive Geschichten, die aus dem Leben herausgegriffen sind, sich jedoch nicht mehr bedingungslos darin verankern lassen, zu vereinen. Formal spielt Ludescher mit Erwartungen, die Leser:innen dem Begriff der Memoiren entgegenbringen, haben wir es doch weder mit einem zusammenhängenden Entwicklungshergang zu tun, noch kann man sich hier mit einem Protagonisten identifizieren. Noch dazu driftet der Großteil der Erzählungen in Science-Fiction ab. Ein knapp über 30-jähriger Autor schreibt Memoiren, die für sich selbst stehende Kurzgeschichten sind und das aus dem Mund eines Goldfisches mit Gedächtnisschwund heraus. Alleine das zeigt das Spiel auf, das der Autor treibt: Eine kleine Wendung, ein kleiner Gedanke abseits des Realistischen und alles geht anders aus, als wir es gewohnt sind.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Dez'23/Jän'24 erschienen.

Simon Ludescher: Memoiren eine Goldfisches. story.one publishing, 80 Seiten, gebunden, ISBN 9783710861246, € 18,50

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