die lagune sehnt sich
Erika Kronabitter: „Delfine vor Venedig. Stadtbilder animiert reloaded“
Manuela Cibulka ·
Nov 2024 · Literatur
Beinahe schon wieder in Vergessenheit geraten ist jene Zeit, in der die Medien von durch Venedigs Lagunen schwimmenden Delfinen berichteten. War man nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort, wenn man die Tiere nicht selbst gesehen hat, oder war es vielleicht doch eine Falschmeldung, und die Bilder wurden in Sardinien aufgenommen?
Erika Kronabitter – Schriftstellerin, Künstlerin und Initiatorin des Feldkircher Lyrikpreises – kann die Meldung nicht bezeugen, auch wenn sie gerne an deren Richtigkeit glauben würde. Als langjährige Besucherin der Lagunenstadt boten aber nicht nur die Delfine, sondern ihre gesammelten Entdeckungen Inspiration für den in der Edition Melos soeben erschienenen Lyrikband. In 50 Gedichten teilt sie ihre Gedanken- und Gefühlsbilder mit den Leser:innen und Venedig wird mit seinem Zauber, aber auch mit seinem Verschwinden, dem Wegbrechen und dem Verfall, wenn nicht nur der Mond, sondern auch „der Moder dämmert“, beinahe greifbar. Bereits auf einer der ersten Seiten wird man mitgenommen auf die Reise, wenn es mit dem Zug von Mestre nach Santa Lucia geht.
gedachte gerade
schienenfallen | oder | das fallen des festlandes
ein brechen der bahnlinie | links und rechts ein wegbrechen
der zug eine stabile | gedachte über dem wasser
gedachte gerade | konzept
kein einbrechen
aussteigen
Wellen, Gondeln, der Strand und die Gassen bevölkert und „bewandert“ von Touristen und Kindern, umkreist von „Scherenschnittmöwen“ und aufgescheuchten Tauben, und dazwischen immer wieder Brücken:
bögen brücken
flachschuhige chöre | ausgerüstet mit hüten aus stroh
das selfie schiebt sich | stufenweise über
bögen brücken
ein drängen | wogen: bald rechts bald links
in gassen | urlaubszitate für später
berührungslos gleiten die ratten in ritzen
stolpern lautlos | dem lärm zu entkommen
trügerische sicherheit | vor dem misslingen
an der spitze der insel atemlos frei die zuversicht
Eines jener Gedichte, in dem sich all das, was Venedig ist und auszeichnet, ungeschönt vermischt. Neben der Sonne und dem Leuchten auch der Regen und das Überschatten, neben der Unendlichkeit die Endlichkeit und neben dem Wogen das Versinken – alles findet Platz in den durchwegs in Kleinbuchstaben notierten kleinen „Bildern“, die alle für sich und doch gemeinsam stehen. Ein „lyrischer Stadtplan“, der einem weniger „Geh- sondern vielmehr Blickwege“ eröffne, meint Erika Kronabitter in einem Interview (mit Daniela Fürst, nachzuhören auf www.literadio.at). Hier erfahren wir auch, dass der Arbeitstitel des Buches „Venedig mit Freunden“ lautete. Auch wenn sie selbst die Erkundungswege am liebsten eigenständig beschreite, sich dabei unentwegt verirre, aber beim Sich-Zeit-Nehmen erst in Resonanz treten und Kleinigkeiten bewusst wahrnehmen könne, ist ein „Wir“ immer wieder in den Gedichten präsent. So findet sich beim Flanieren oft ein Gegenüber, und Gefühle und Sehnsüchte durchdringen die Straßen.
sind wir
verschwimmende bilder |die müdigkeit
wird überschüttet | überschattet sehnsüchte
vom lieben | rien ne va plus
sorgfältig bewohne ich den alltag
der sich in deinen |augen spiegelt
Lesarten in unterschiedlichste Richtungen sind erwünscht, ebenso die Suche nach versteckten Interpretationsmöglichkeiten oder auch das „Reduzieren der Blicke“, um eine Gedichtzeile zu zitieren. Und wer ein paar Tage Zeit findet im Herbst: Venedig ist immer eine Reise wert und Erika Kornabitters Gedichtband ein schöner Begleiter.
Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR November 2024 erschienen.
Erika Kronabitter: Delfine vor Venedig. Stadtbilder animiert reloaded, Reihe vers libre – Zeitgenössische österreichische Lyrik, Band 19, Edition Melos, Wien 2024, 84 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-9505459-2-0, € 26
Vorschau:
Lyrik-Queens und Klanglabor präsentieren: „Von Menschen, Fischen und Gespenstern“
Lesung mit Erika Kronabitter sowie Bettina Balàka und Patricia Brooks
Do, 23.1.25, 19.30 Uhr
Theater am Saumarkt, Feldkirch
www.saumarkt.at