Dem Schicksal jüdischer Kinder auf der Spur
Gerda Hofreiter: „Verstoßen. Die Wege der jüdischen Kinder und Jugendlichen aus dem Gau Tirol-Vorarlberg“
Raphael Einetter · Mär 2024 · Literatur

Bereits im Dezember 2023 veröffentlichte die pensionierte Tiroler Lehrerin Gerda Hofreiter ihr neuestes Werk zum Schicksal jüdischer Kinder während der NS-Zeit. Darin widmet sich die Historikerin, die ihr Geschichtestudium 2007 an der Universität Innsbruck abschloss, nicht zum ersten Mal diesem Thema. Beschäftigte sie sich in ihrem 2010 erschienenen Buch „Allein in die Fremde“ noch mit den Kindertransporten von Österreich nach Frankreich, Großbritannien und in die USA zwischen 1938 und 1941, setzt sie nun in „Verstoßen“ einen geographischen Schwerpunkt auf Vorarlberg und Nordtirol.

In jahrelanger Recherchearbeit spürte sie einzelnen Lebens- und Fluchtgeschichten nach, die aufgrund der damaligen demographischen Lage einen klaren „Tirol-Überhang“ aufweisen. Während im frühen 20. Jahrhundert nämlich insbesondere in Innsbruck die jüdische Bevölkerung wuchs, ging sie in Hohenems sowie im übrigen Vorarlberg weiter zurück.

Historische Einordnung 

Auch zeitlich setzte sich Hofreiter enge Grenzen und behandelt lediglich jene 101 Kinder und Jugendlichen, die das Gebiet des „Reichsgaus Tirol-Vorarlberg“ zwischen März 1938 und Dezember 1939 verlassen hatten. Sechs von ihnen taten dies aus Vorarlberg, einige mehr hatten zudem familiäre Wurzeln diesseits des Arlbergs. Der Behandlung der Einzelschicksale vorangestellt, findet sich eine kurze historische Einordnung, die im Falle der Nordtiroler Familien die Besonderheit aufzeigt, dass alle betroffenen Personen aus jenen Familien stammten, die nach der 1867 im Grundgesetz verabschiedeten Ansiedlungsfreiheit zugewandert waren. Für den starken Zuzug aus den östlichen Kronländern der Habsburgermonarchie war nicht zuletzt die Erschließung durch die Eisenbahn maßgeblich; doch auch die großen Industriewerke zogen Arbeitskräfte an. Die positive Entwicklung jüdischen Lebens war in jenen Jahren aber bereits von zunehmendem Antisemitismus in Teilen der Gesamtbevölkerung begleitet, was nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ab März 1938 auch in Tirol und Vorarlberg schnell zu geänderten Voraussetzungen führen sollte. Konnten diese Ressentiments, wie Hofreiter vermutet, bis dahin zumindest von den Kindern einigermaßen ferngehalten werden, gelang ein schützendes Abschirmen nun nicht mehr. Beschimpfungen in den Schulen standen an der Tagesordnung, ehe den jüdischen Kindern der Schulbesuch schließlich ganz verwehrt wurde. An dieser Stelle, wie auch bei der nachfolgenden Beschreibung der fortschreitenden Entrechtung jüdischer Familien, finden sich mehrmals Querverweise auf die, in der Regel unfreiwilligen, Migrationsgeschichten, die den Hauptteil des vorliegenden Bands ausmachen.

Bollag, Pilpel, Turteltaub und Weil

Von den vier darin behandelten Vorarlberger Familien konnten zwei auf eine mehrere Generationen zurückreichende Abstammung von Hohenemser Vorfahren zurückblicken. Dies traf etwa auf die Kinder des Schweizers Jakob Bollag und der Hohenemserin Jenny geb. Landauer zu, wie Hofreiter in Anlehnung an die „Hohenems Genealogie“, die genealogische Datenbank des Jüdischen Museums Hohenems, zu berichten weiß. Dabei eignet sich die Geschichte der beiden Kinder, Kurt und Liselotte, unter Anbetracht der eingangs formulierten, chronologischen Prämisse aber nur bedingt. Denn die Familie betrieb bereits ab Mitte der 1930er Jahre eine Firma für Regenbekleidung in Heerbrugg und gab noch vor dem sogenannten „Anschluss“ die in Hohenems befindliche Stickerei auf. Von einer Flucht kann bei den in Rankweil bzw. Hohenems geborenen Kindern hierbei kaum die Rede sein, selbst über ein „Verstoßen werden“ könnte sich streiten lassen. Die Verbindung in die „alte Heimat“ blieb jedenfalls auch nach dem Zweiten Weltkrieg aufrecht, was nicht zuletzt Kurt Bollags Bemühungen um den Erhalt des Jüdischen Friedhofs in Hohenems zeigen.
Konträr dazu liest sich die Geschichte der letzten, in Hohenems geborenen Jüdin, Nina Pilpel, die im Oktober 1932 zur Welt kam. Ihre Eltern stammten aus Wien und waren aus beruflichen Gründen erst vier Jahre zuvor nach Vorarlberg gekommen. Im Februar 1939 verließ Nina mit ihren Eltern Franz Josef Pilpel und Marion geb. Stern, als eine der letzten jüdischen Familien, ihren Geburtsort. Während der Vater die Schiffspassage in Richtung Shanghai wählte, verbrachten Mutter und Tochter den Sommer in Wien, ehe sie ihm mit einer Maschine der KLM im August nach Indien folgten. Den autobiographischen Erzählungen Nina Pilpels zufolge, erinnerte sie sich noch sehr detailliert an die in Wien erlebte Ausgrenzung. Eine Ausgrenzung, die ihr Vater 1942 durch die offizielle Annahme des katholischen Glaubens für die Zukunft auszuschließen versuchte.
Bei der seit 1930 in Dornbirn lebenden Familie Turteltaub, in die mit Hans und Walter in den darauffolgenden Jahren zwei Söhne geboren wurden, nahm die Fluchtgeschichte hingegen kein positives Ende. Zu viert versuchten sie sich über Italien per Schiff in Richtung Uruguay und Bolivien zu retten, doch der Kriegsbeginn verhinderte die Überfahrt. Stattdessen folgte die Internierung in mehreren italienischen Lagern, ehe sie im Juni 1944 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden.
Die Erzählung zur erfolgreichen Flucht von Harry Weil Jr. und seinen Eltern behandelt wiederum eine Familie, deren Vorfahren seit vielen Generationen in Hohenems gelebt hatten. Allen, die bereits einmal das Jüdische Museum Hohenems besucht haben, dürfte der weitere Verlauf dieser facettenreichen Geschichte bekannt sein. Dies ist nicht zuletzt Harry Weil Jr. selbst zu verdanken, durch dessen Schenkungen zahlreiche Objekte und Fotos in die Museumssammlung aufgenommen werden konnten. Fotos, die auch von Hofreiter verwendet wurden und bei denen rückblickend eine genauere Recherche seitens der Autorin ratsam gewesen wäre, da sie Harry Weil Jr. an mehreren Stellen offensichtlich mit seinem gleichnamigen Vater verwechselte. Ein Umstand, dem mit einem verstärkten Augenmerk auf die Datierung der Abbildungen beizukommen gewesen wäre.

Wertvolle Kontaktpflege

Abgesehen von einigen Ungenauigkeiten bei der Zitierweise von Bild- und Textquellen ist Gerda Hofreiter aber vor allem die Vielzahl an dokumentierten Gesprächen mit Betroffenen, sowie deren Nachkommen, anzurechnen. Wenngleich dies nur die Tiroler Episoden ihres Werks betrifft, sind es insbesondere diese wertvollen Einzelkontakte, welche die Forschungsleistung des gesamten Buches unterstreichen. Dabei vermittelt nicht zuletzt Hofreiters narrativer Stil, wie sehr sie sich für die vielen, persönlichen Begegnungen begeistern konnte.

Dieser Artikel ist bereist in der Print-Ausgabe der KULTUR März 2024 erschienen.

Gerda Hofreiter, Verstoßen: Die Wege der jüdischen Kinder und Jugendlichen aus dem Gau Tirol-Vorarlberg 1938-1945. Tyrolia Verlag, Innsbruck 2023, Hardcover, 376 Seiten, ISBN 978-3702241148, € 35

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