Das Wort als Waffe
Neuerscheinung zum Fall Jack Unterweger: „Austrian Psycho“ von Malte Herwig
Ingrid Bertel · Mär 2024 · Literatur

„Im Prinzip bin ich gefährlicher als vor der Haft, weil ich ja das Denken gelernt hab und das Wort als Waffe verwenden kann.“ Das sagt der Serienmörder Jack Unterweger am Tag seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Gefängnis gegenüber dem ORF – und tritt den Beweis für seine Gefährlichkeit an. Neun Frauen wird er in der kurzen Zeit seiner Freiheit ermorden.

„Jack the Writer“ nennt ihn Paul Jandl in Anspielung auf „Jack the Ripper“, „Austrian Psycho“ nennt ihn Malte Herwig in Anspielung auf einen ehemaligen Bestseller von Brett Easton Ellis. Herwigs dokumentarische Erzählung „Austrian Psycho“ präsentiert verblüffende neue Aspekte zum Kriminalfall.
Am 5. Dezember 1990 hat der von den Medien als „Häfenpoet“ bezeichnete Jack Unterweger eine Lesung in Bregenz. Es kommen nur wenige Leute; der Autor ist frustriert. Gegen Mitternacht ruft ihn eine Freundin, Margit Haas, noch einmal an. Da wirkt er wie ausgewechselt. „Er klang überhaupt nicht mehr frustriert, sondern aufgekratzt wie ein Teenager, der gerade gut gelaunt von einer Party kam.“
Die gute Laune verdankte er vermutlich einem Mord. Drei Wochen später wird die Leiche der Prostituierten Heidemarie Hammerer in einem abgelegenen Waldstück in Hard gefunden. An ihrer Kleidung stellt die Spurensicherung eine rote Kunstfaser sicher, die nicht mit den Textilien der Ermordeten übereinstimmt. Die Spur führt zu Jack Unterweger. Er wird am 27. Februar 1992 in Miami verhaftet. Seine Geschichte ist unzählige Male erzählt, analysiert, dramatisiert und verfilmt worden. Doch Malte Herwig betrachtet den Fall aus einer völlig neuen Perspektive: auf Basis zahlreicher Interviews, Dokumente, Briefe und Tonbandaufnahmen. Sie finden sich großteils auch auf seinem True Crime Blog „Gier frisst Schönheiten“.

Unsere Sprache

„War es nicht ein Wunder, dass einer wie der unsere Sprache lernen und einer von uns werden wollte?“, fragt ein namenloser Ghostwriter (nennen wir ihn hier „Malte“), der im Auftrag von „Herwig“ die Geschichte des Mörders erzählen soll. Wie so viele ist „Malte“ in den 1980er Jahren einer, der sich für die Haftentlassung Unterwegers engagiert. Wie so viele glaubt er, im „Häfenpoeten“ den Paradefall einer gelungenen Resozialisierung zu erkennen. Dass Haftstrafen den Menschen im Allgemeinen nicht besser machen, sondern zum Verbrecher erziehen, gehört zum Allgemeinwissen. Justizminister Christian Broda aber setzt sich, ebenso wie sein Nachfolger Harald Ofner, die Wiedereingliederung von Häftlingen in die Gesellschaft zum Ziel. In einem Radiointerview sagt Ofner über Jack Unterweger: „Das ist ein bemerkenswerter Fall einer positiven Persönlichkeitsentwicklung, wie man es sich im Strafvollzug nur wünschen kann.“ 
Es gibt zahlreiche Sozialarbeiter:innen, Therapeut:innen, Künstler:innen, die sich für solche Resozialisierung engagieren – selbst bei einem, dessen Vorstrafenregister lang ist wie das von Jack Unterweger: Einbruchsdiebstahl, Entführung Minderjähriger, Nötigung, Vergewaltigung, Körperverletzung, Zuhälterei. Und dann der Mord an der 18-jährigen Margret Schäfer. Unterweger wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Er kommt in Kontakt mit der Journalistin und Autorin Sonja von Eisenstein, die ihn zum Schreiben animiert. Er schickt ihr, von Suizidgedanken gequält, ein Gedicht:
„Noch erscheinst du fremd und fern/ und bist lebendig, Tod. Stehest als ein kühler Stern / über meiner Not. Aber einmal wirst du nah / und voll Flammen sein. Komm, Geliebter, ich bin da / nimm mich, ich bin dein.“
„Es gab nur ein Problem: Das Gedicht stammt gar nicht von Jack. Es heißt eigentlich ,Bruder Tod‘ und ist von Hermann Hesse. Jack hatte es abgeschrieben. Er änderte nur den Titel und ein paar Wörter in der zweiten Strophe.“ Dass er sich mit falschen Federn schmückt, erfährt Sonja von Eisenstein mehr als einmal. Dennoch finanziert sie ihm einen Schreibmaschinenkurs und einen Fernlehrgang in „Technik der Erzählkunst“. 

Glückloses Töten

1982 veröffentlicht der Sozialarbeiter Karl Rottenschlager ein Buch mit dem optimistischen Titel „Das Ende der Strafanstalt“. Unter den Erzählungen von Gefangenen findet sich auch ein irritierender Text von Unterweger. Er schreibt über Gefängniswärter, „abgerichtet zum Töten aus Sicherheitsgründen. Glückloses Töten“. Fallen solche Sätze niemandem auf? Als könnte Töten Glück sein! Als wäre das Gefängnispersonal zum Töten abgerichtet! Die Journalistin Marga Frank stößt sich offenbar nicht an solchen Sätzen. Sie besucht Unterweger immer wieder im Gefängnis und veröffentlicht seine Erzählungen in ihrer Sendung „Das Traummännlein kommt“. „Malte“ bemerkt: „Was weder Marga Frank noch ich ahnten: Die ersten Kindergeschichten, die Jack ihr unter seinem Namen für das ,Traummännlein‘ schickte, stammten gar nicht von ihm, sondern von Sonja von Eisenstein. Als die davon erfuhr, war sie verständlicherweise empört.“ Er beruhigt sie: Nun werde er auf Eigenbau umsteigen. Der Eigenbau – ein über 1000 Seiten dickes Manuskript mit dem Titel „Drogen, Blut und Tränen“ – „war eher eine pornografische Fleißarbeit. […] Der Deutschlehrer Alfred Bruckner, der die Häftlinge in der Justizanstalt einmal pro Woche unterrichtete, konnte mit dem Text nichts anfangen. Er hielt es für ausgeschlossen, dass sich irgendein Verlag für das Machwerk interessieren könnte.“ 

Schöne Tage

Unterweger hält es aber nicht für ausgeschlossen. Er wendet sich an Jochen Jung, damals Lektor beim Residenz Verlag. Der rät ihm zur Lektüre von Franz Innerhofers Roman „Schöne Tage“. Unterweger ist gelehrig. Er übernimmt Innerhofers Erzählperspektive, wie er 1983 in einem Interview mit dem ORF erzählt: „Da hat dieser Unterweger nicht im philosophischen ,Ich‘ geschrieben, sondern da hat er noch im ,Er‘ geschrieben, also angelehnt an Ratschläge von Dr. Jung des Residenz Verlages, also Innerhofers ,Schöne Tage‘ und so weiter.“ 
Sonja von Eisenstein hilft ihm mit dem Manuskript, und „Herwig“ vermutet: Der Schriftsteller Jack Unterweger ist eine Erfindung von Sonja von Eisenstein. Allerdings erweist er sich als geschickter Netzwerker. Er bietet seine Texte Alfred Komarek für die Literaturzeitschrift „Manuskripte“ an und schreibt ihm, dass er unbedingt öffentlich lesen möchte: „… man spricht laufend von misserfolgen bei der resozialisierung und ist nicht geneigt, auch solches, das der gefangene von sich aus erreicht, einmal herzuzeigen.“ Unterweger bietet sich also als Paradefall für Resozialisierung an. Mit Erfolg! Am 30. September 1983 darf zum ersten Mal in der österreichischen Justizgeschichte ein Lebenslänglicher vor auswärtigem Publikum aus seinem Buch lesen. Es ist der autobiografische Roman „Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“.
Das Buch ist ein rauschender Erfolg. Die Crème de la Crème österreichischer Autor:innen zeigt sich beeindruckt. Nur einer nicht. Peter Handke: „Das macht er für andere. Wenn man wirklich was erlebt, verwandelt man das. Nur anderen zu imponieren, sich anzuschmeicheln – das war ein Schwindler.“
„Ob ich mich nie darüber gewundert habe, fragt Herwig, dass der Mord an Margret Schäfer in Jack Unterwegers großer autobiografischer Lebensbeichte überhaupt nicht vorkommt?“ Das Faszinierende an „Austrian Psycho“ ist sein erzählerischer Kunstgriff: „Malte“ möchte so gerne an die erfolgreiche Resozialisierung glauben, ist fasziniert von der Verwandlung des Mörders in den Dichter. „Herwig“, sein Partner, bleibt skeptisch: „Er traut mir nicht. Ich soll Distanz halten zu meinem Gegenstand.“ 

Ein wahnsinniges Siegergefühl

1989 besucht der Journalist Peter Huemer den „Lebenslänglichen“ in der Justizanstalt Stein und nimmt ein langes Interview mit ihm auf. Unterweger sagt da zum Beispiel: „… in dem Moment, wo man Angst verbreitet und sieht den anderen dann ängstlich zittern, kriegt man ein wahnsinniges Siegergefühl, obwohl man weiß, dass man etwas Schweinisches gemacht hat.“ Hat das den Leiter der Justizanstalt und seine Mannschaft nicht stutzig gemacht? Nein. Auch nicht den Sexualwissenschaftler und Psychoanalytiker Ernest Bornemann, der sich für Unterwegers Freilassung einsetzt: „Ich kann die Tat als beruflicher Sexualwissenschaftler besser würdigen als so mancher Psychiater. Und eben deshalb bin ich überzeugt, dass diese Tat nicht wiederholt werden wird.“
Er wird sie neun Mal wiederholen. Aus seiner Seele hat er im Übrigen keine Mördergrube gemacht. So rezitierte er etwa 1981 auf der Adventsfeier im Gefängnis ein Gedicht, in dem es heißt: „Welche Maske ich auch trage, es ist alles nur ein Spiel auf der großen Weltenbühne. Für ein fernes, nahes Ziel, denn die Rollen, die ich spiele, haben immer einen Sinn.“ Unterweger spielte seine Rolle als Autor oder Reporter fabelhaft. Am 6. Mai 1991 sendet der ORF eine Reportage über die Angst im Rotlichtmilieu. Sie beginnt mit den Sätzen: „In Vorarlberg fiel im Dezember des Vorjahres eine Prostituierte ihrem Mörder in die Hände. Im Wiener Raum wurden vier Prostituierte ermordet aufgefunden. Von zwei weiteren, von denen anzunehmen ist, dass sie ebenfalls entführt oder bereits ermordet worden sind, fehlt jede Spur.“ Der Reporter, der hier berichtet, ist Jack Unterweger.
Nachher ist man immer klüger. Trotzdem: Ein Ruhmesblatt ist die Einschätzung Unterwegers durch die versiertesten Autor:innen der Republik, der Psychiater:innen, Sozialarbeiter:innen, Jurist:innen im Fall Unterweger nicht. Hätten sie einfach genauer lesen müssen? Elfriede Jelinek, die sich für den Autor von „Fegefeuer“ engagiert hatte: „Er wird ein Muster geliefert haben und jemand anderer hat es dann extrem stark redigiert oder neu geschrieben. Ich habe das einmal untersuchen wollen, denn seine späteren Arbeiten sind einfach furchtbar. Unbegabt, dumm und präpotent, nichts davon zu gebrauchen. Es kann einfach nicht derselbe Mensch sein, der Fegefeuer und die Sachen danach geschrieben hat.“

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR März 2024 erschienen.

Malte Herwig: Austrian Psycho. Molden Verlag, Wien 2024, 128 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-222-15112-5, € 19,00

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