Das ungeküsste Mädchen
Monika Helfer: „Die Jungfrau“
Ingrid Bertel · Sep 2023 · Literatur

In ihrem neuen Roman „Die Jungfrau“ erzählt Monika Helfer von zwei Jugendfreundinnen, die einander nach einem halben Jahrhundert wieder begegnen. Zwei Mädchen sitzen auf einer Steinbank im Garten und trinken Tee. „Ich bevorzuge Earl Grey“, sagt Monika – und fühlt sich dabei sehr vornehm, denn: „Bei uns hieß er: Schwarztee. Bei Gloria wurde unterschieden – Earl Grey, Darjeeling, Assam, Ceylon.“

Bei Gloria gibt es auch schöne Kleider, zahllose, mit erlesenen Möbeln ausgestattete Zimmer und den Park mit der weißen Steinbank. Monika lebt in der Südtiroler Siedlung und teilt sich ein winziges Kämmerchen mit ihren beiden Schwestern.
Gloria sieht glorios aus, und sie macht glorios Eindruck. „Als mein Vater Gloria zum ersten Mal sah, nahm er ein Wort aus seiner Schatulle, das er sonst nie verwendete: ,zauberhaft‘ … Mein erster Mann fand Gloria ,hinreißend‘, so dass ich irritiert war … Michael, meinem zweiten Mann, stach sie ebenfalls ins Auge.“

Auf der Suche nach der Distan

Aber ob nun zauberhaft, hinreißend oder ins Auge stechend, Glorias Name wirkt wie Hohn. Gloria wird nicht geliebt, als Kind nicht und als Frau auch nicht. Monika benennt den Grund dafür: „Wenn einer dauernd ,Ich‘ sagt, heißt das nicht unbedingt, dass er daran Gefallen hat, wie er ist. Gloria sagt ,Ich‘ und schaut mich flehentlich an. ,Ich, ich, ich!‘ Von Ich zu Ich ein Löffel mehr Verzweiflung, schon ist das Gericht ungenießbar geworden.“
Das ist beinhart und glasklar. So viel Dringlichkeit erfordert Distanz. Immer ist Gloria zu fordernd, eine Virtuosin im Erzeugen von schlechtem Gewissen und eine, die gern Befehle erteilt – auf subtile Art. „ […] sie hat gewartet, dass ich frage. Ich habe nicht gefragt. Das Warten auf eine Frage ist ein Befehl.“ Und Monika lässt sich keine Befehle erteilen. Dennoch rührt ihre Aufmerksamkeit für Gloria ans Herz.
Monika im Buch ist nicht Monika Helfer, auch wenn Monika Helfer, die Autorin ebenso Distanz hält zu ihren Figuren. Monika Helfer, die Autorin, wählt aus, setzt ihre Figuren in Szene, verfolgt eine Absicht. Und es ist beeindruckend, wie wenig sie braucht, wie alltäglich diese Szenen aus dem Leben von zwei Jugendlichen sein können – um Menschenbilder zu erzeugen, die in ihrer Komplexität und Lebendigkeit verblüffen. Sie zeichnet sie wie mit dem Silberstift, der keine Korrekturen erlaubt. Nichts ist dick aufgetragen, nichts ist breit ausgemalt.

Spiegelbilder

Da sitzt zum Beispiel ein Paar im Restaurant. Die Frau scheint dem Mann aufmerksam zuzuhören, scheint mit ihm zu scherzen, zu flirten. Und Monika Helfer merkt an: „Sie ist so. Sie spielt immer. Sie weiß es schon gar nicht mehr. Sie spielt allein vor dem Spiegel und spielt allein ohne Spiegel. Sie weiß nicht, wer sie ist. Es spielt ihr wie von selbst.“
Ist Gloria so eine? Ein poor little rich girl? In so eine Klischeefalle tappt Monika Helfer nicht. Gloria ist ebenso wenig ein Typus wie Monika. Auch wenn sie Schwierigkeiten hat, sich selbst zu akzeptieren. „Ich glaube, sie war immer so sehr hinter den Spiegeln her, weil sie sich vergewissern wollte, ob es sie noch gibt.“
Deutlicher lässt sich die Verzweiflung eines ungeliebten Kindes nicht formulieren. Gloria lebt allein mit ihrer Mutter in dem großen, luxuriösen Haus. Allein und in einer Art ständiger Erwartung des Vaters. Ihr Mann werde wiederkommen, diese Illusion hat ihr die Mutter „ins Herz implantiert“: „Nicht, dass hier Unbewusstes werkelte, nein, ich denke, die Mutter hat das mit Absicht getan. Mit Plan und Absicht. Die Illusion, die Sehnsucht, auch der Hass, die Angst, die Unbefriedigtheit sollen nicht sterben, wenn ich sterbe … Sie sind mein Erbe.“

Das Gespensterhaus

Was macht Monika? Sie denkt nach über ihre Freundin, und im Nachdenken wird sie immer feinfühliger. Sie spürt, wo Glorias Dringlichkeit zur Bedrohung für sie selbst wird. Dass sie gern und zufrieden mit sich allein ist, scheint Gloria zu stören. Und so nimmt Monika Abschied von einer Sehnsucht, denn so eine kleine, sauber aufgeräumte Wohnung, wie es sie in Glorias Villa unter dem Dach gibt, die hätte sie schon gern gehabt. Aber als sie einmal allein dort sitzt, überfällt sie ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit.  „Warum? Weil ich hinter Gloria hergelaufen war, hinein in ihre und in die Einsamkeit ihrer Mutter und die Einsamkeit dieses Hauses.“ Und als ihr Glorias Mutter die Wohnung anbietet – ein Luxus verglichen mit dem engen Zuhause in der Südtiroler Siedlung, „da dachte ich: Jetzt will das Gespensterhaus mich auch noch haben.“
Es ähnelt einer Flucht vor diesem Haus, als Gloria und Monika sich in ein Abenteuer stürzen. Nach New York wollen sie reisen. „Dort lassen wir uns entjungfern“, das ist Glorias Plan. Monika ärgert sich nicht über das aufgezwungene „Wir“, „im Gegenteil, ich triumphierte, innerlich, gesagt habe ich nichts: Ich war nicht mehr Jungfrau.“ Und weil in New York angeblich Glorias Vater lebt, sagt sie Gloria dann eine Sache doch ins Gesicht: „Dein Daddy ist ein Spinnwebmann, mehr Luft als Fleisch und Knochen.“
Das New-York-Abenteuer geht schief, so wie Monikas erste Ehe schief geht. „In dem ersten Jahr, in dem mein Mann und ich bei seinen Eltern im Erdgeschoß wohnten und ich nichts zu tun hatte, als auf eine Schwangerschaft zu warten und dann schwanger zu sein, stellte mich mein Schwiegervater als Tippse ein.“ Das hat immerhin einen Vorteil: Monika wird endgültig klar, dass sie Schriftstellerin werden möchte. Schreiben – das ist ein produktiver Weg, über andere und sich selbst nachzudenken. Es ist auch der Weg in eine offene, fröhliche, spannende Welt, die unendlich viele Entdeckungsreisen möglich macht.
Als Coming-of-Age-Geschichte werden solche Erzählungen gerne bezeichnet. Monika Helfer ist da härter, präziser: Spielt die eine „irgendjemanden, nur damit sie glauben kann, dass sie jemand ist“, und sieht die andere zu, weil sie schon jemand ist, aber noch lernen möchte, das auch zu formulieren? „Die Jungfrau“ ist bei aller Traurigkeit ein helles Buch, eines, das in die Verzweiflung hineinleuchtet und das schlechte Gewissen vertreibt, weil es sich dabei nämlich um „ein friedliches Märchenungeheuer“ handelt.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR September 2023 erschienen.

Monika Helfer: Die Jungfrau. Hanser Verlag, München 2023, 152 Seiten, Hardcover, ISBN 978 3 446 27789 2, € 22,70

Lesung: 10.10., 19.30 Uhr, Theater Kosmos, Bregenz

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