Das Museum als Ort des Lernens, Lebens und Erlebens – Interview mit Gianni Jetzer, dem neuen Direktor des Kunstmuseums St. Gallen Karlheinz Pichler · Feb 2023 · Ausstellung

Nach der Pensionierung des Langzeit-Direktors Roland Wäspe hat der Kunsthistoriker Gianni Jetzer im vergangenen Dezember beim Kunstmuseum St. Gallen das Kommando übernommen. Obwohl erst drei Monate im Amt, ist das Programmjahr 2023 der wohl wichtigsten Kunstinstitution der Ostschweiz sowie deren Aussenstelle «LOK» (früher Lokremise) bereits stark von der Handschrift des neuen Chefs geprägt.

Gianni Jetzer, Jahrgang 1969, studierte Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Zürich und arbeitete in der Limmatstadt zunächst als Kurator am Migros Museum für Gegenwartskunst. 2001 wurde er zum jüngsten Direktor der Kunsthalle St. Gallen ernannt. Mit Ausstellungen wie etwa über Gelitin, das Kollektiv etoy oder Urs Fischer sorgte er immer wieder für Spannung, bis er 2006 nach New York berufen wurde, um dort das renommierte Swiss Institute zu leiten. Seit 2013 arbeitete er als unabhängiger Kurator, unter anderem für das Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington D.C. Von 2012 bis 2019 kuratierte er außerdem die „Art Unlimited“ der Kunstmesse Art Basel.
Karlheinz Pichler sprach mit dem Kunstkenner, der bestens international vernetzt ist und das Kunstmuseum experimenteller ausrichten will, über seine konkreten Aufgaben und Ziele in St. Gallen.       

Karlheinz Pichler:
Vorab die Frage – wie ist es für Sie, nach so langer Zeit wieder in St. Gallen tätig zu sein?       
Gianni Jetzer: Super, die Stadt bietet mehr als man sich reinziehen kann. St. Gallen sollte Kulturhauptstadt Europas werden! Welche Stadt dieser Größe hat die schönste Bibliothek Europas, ein Opernhaus, mehrere Theater, ein Kunstmuseum, eine Lokremise, eine Kunsthalle, eine Kunstgießerei, ein Kulturmuseum, ein Zentrum für Outsider-Kunst?      
Pichler: Sie sind zwar als neuer Direktor des Kunstmuseums St. Gallen erst kurz im Amt, scheinen aber am Jahresprogrammes 2023 offenbar bereits maßgeblich mitzuwirken. Inwieweit ist diese Beobachtung richtig?      
Gianni Jetzer: Ja, die Beobachtung ist richtig. Ich bin in das diesjährige Programm stark involviert. Ich kuratiere insgesamt fünf Ausstellungen: Sheila Hicks (4. Februar bis 14. Mai, LOK), Tschabalala Self (25. Februar bis 18. Juni, Kunstmuseum), Unerwartete Begegnungen: Neue Perspektiven auf die Sammlung (mit Melanie Bühler; 25. Februar bis 5. November), Sammlungsfieber (mit Melanie Bühler; 26. August bis 5. Mai 2024) sowie Roman Signer (9. September bis 10. März 2024). Die restlichen Ausstellungen sind von Kuratoren im Hause verantwortet, hauptsächlich von der langjährigen Leiterin des Kunstvereins Nadia Veronese.      
Pichler: Gibt es von Ihrer Seite aus bereits konkrete Überlegungen, wo und wie Sie im Kunstmuseum und in der LOK künftig die Schwerpunkte setzen werden?      
Jetzer: Das Museum soll sich mehr mit Kunstgeschichte, Soziologie und Alltag auseinandersetzen, und sich dabei öffnen als Ort des Lernens, des Erlebens, des Lebens, des visuellen Denkens …     
Pichler: Die erste Ausstellung, die in Ihre Verantwortung fällt und auch von Ihnen kuratiert wird, ist die Werkschau der 1934 in Hastings im US-Bundesstaat Nebraska geborenen Künstlerin Sheila Hicks, die für ihr atemberaubendes Farbenspiel mit natürlichen Stoffen bekannt ist. Was schätzen Sie an dieser Künstlerin, die seit 1964 in Paris lebt, persönlich?      
Jetzer:
Sheila Hicks ist eine lebende Legende. Ich habe größte Bewunderung für ihre Kunst und wie sie Brücken schlägt zwischen verschiedenen Kulturen, Zeitalter, und Kontinenten.     
Pichler: Sie gelten als Kunstexperte, der international bestens vernetzt ist. Das ist sicher ein zentraler Faktor, weshalb man Sie in dieses Amt berufen hat. Denn wir leben in einer Zeitenwende, in der der Digitalisierung in allen Branchen eine entscheidende Bedeutung zukommt. Wie werden sich Ihrer Meinung nach Museen im Zeitalter der Digitalisierung weiterentwickeln?       
Jetzer: Wir müssen auf ein hybrides Modell setzen. Es braucht beides, wir müssen digital und physisch für unsere Besucher da sein.      
Pichler: Und wie kann so ein hybrides Modell aussehen? Was beispielsweise hat das Kunstmuseum St. Gallen in Richtung Digitalisierung vor?       
Jetzer: Wir wollen möglichst bald unsere Sammlung als E-Museum weltweit zugänglich machen. Die digitalen Guides im Museum werden ausgebaut. Bisher arbeiten wir erfolgreich mit „LIARA“, einer interaktiven Vermittlungsplattform in 40 Sprachen. Und last but not least: Wir „minen“ das erste NFT (Non-Fungible Token) von Alexander Hahn, eine käufliche Edition. Greifen Sie zu, bevor sie ausverkauft ist.

https://www.kunstmuseumsg.ch/

 

Teilen: Facebook · E-Mail