Christa Hämmerle: „Ganze Männer“
Untersuchung über die Allgemeine Wehrpflicht in Österreich-Ungarn
Markus Barnay · Apr 2023 · Literatur

„Das Heer hat (...) vom Staate die Pflicht auferlegt, die Landeskinder zu ganzen Männern zu erziehen (...). Zum ganzen Mann gehört aber nebst anderen Eigenschaften auch noch eine feste, hohe Moral, ein gediegener Charakter, die Liebe zum Monarchen und Vaterlande.“ Als der k. u. k. Oberleutnant Alfred von Mikofs 1907 in „Danzers Armee-Zeitung“ dieses Bild vom Militär als „Schule der Männlichkeit“ zeichnete, galt in der österreichisch-ungarischen Monarchie die Allgemeine Wehrpflicht schon fast 40 Jahre lang. Und doch waren es noch nicht viel mehr als 20 Prozent aller Stellungspflichtigen, die bei den alljährlichen Musterungen auch als tauglich eingestuft und damit als würdig erklärt wurden, zum „ganzen Mann“ erzogen zu werden.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Solche Widersprüche und jede Menge Unvereinbarkeiten zwischen Anspruch und Wirklichkeit gab es in den Jahren zwischen der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht (1868) und dem Beginn des Ersten Weltkriegs (1914) zuhauf. Die in der Schweiz geborene und in Höchst aufgewachsene Historikerin Christa Hämmerle, Professorin für Neuere Geschichte sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Wien, hat sie in einer umfangreichen Studie über die Einführung und die Auswirkungen dieses neuen, „modernen“ Rekrutierungssystems zusammengefasst und in einem 2022 erschienenen Buch veröffentlicht.
Es war die verheerende Niederlage der österreichischen Armee im Krieg gegen Preußen im Juli 1866 nahe der böhmischen Stadt Königgrätz, die den Anstoß zur Umstrukturierung des Heeres gab. Und es war die gefürchtete preußische Armee selbst, die dafür als Vorbild diente. Und obwohl es vor allem auf parlamentarischer Ebene erhebliche Widerstände gegen die „Volksarmee“ gab, dauerte es gerade einmal zwei Jahre, bis das neue Wehrgesetz in Kraft trat, das erstmals alle männlichen Bürger zu einem – im Kern dreijährigen – Wehrdienst verpflichtete. Bis dahin konnten sich vor allem wohlhabendere Männer freikaufen, wenn sie eingezogen werden sollten (meist geschah das durch den Tausch mit einem weniger begüterten Jahrgänger, der dafür bezahlt wurde). Jetzt gab es nur noch eine Art Lotterie, bei der entschieden wurde, welchem Dienst man zugeteilt werden sollte. Die Teilnahme an diesen „Losungen“ brachte den jungen Männern unter anderem die Bezeichnung „Spielbuben“ ein.

„Volksbewaffnung“ oder „Militarisierung“?

Christa Hämmerle hat ihre – äußerst detailreiche, und dadurch nicht immer leicht lesbare – Studie in drei Themenkreise eingeteilt: „Den Wehrdienst regeln“ handelt von den Auseinandersetzungen über die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht: Die einen propagierten sie unter Verweis auf die europäischen Vorbilder und die Vorteile einer „Volksbewaffnung“, die gewissermaßen die gesamte Bevölkerung im Kampf vereinen würde, die anderen lehnten sie ab, weil sie fürchteten, dass eine „Militarisierung“ des Landes die Gefahr für einen Krieg erhöhte – eine Furcht, die sich ja dann durchaus als berechtigt herausstellen sollte. Vorbehalte gab es aber auch wegen der möglichen Kosten des neuen Wehrsystems, das die ohnehin desolate Finanzlage der Monarchie weiter belasten würde (weshalb man vorsichtshalber von Regierungsseite auf eine realistische Kostenschätzung verzichtete) – und schließlich musste man sich mit der ungarischen Reichshälfte und deren Repräsentanten noch auf Sonderregelungen für Ungarn einigen. Eine Ausnahmeregelung gab es übrigens auch für die Grafschaft Tirol und Vorarlberg, wo es mit den traditionellen Formationen „Landsturm“ und „Landesschützen“ ja schon allgemeine Wehrverbände gab, die aber bisher nur innerhalb der Landesgrenzen zum Einsatz kamen. Sie wurden schrittweise in die k. (u.) k. Armee eingegliedert.
„Den Wehrdienst deuten“ nennt Christa Hämmerle jenen Abschnitt ihres Buches, der sich mit den Konzepten der militärischen Ausbildung beschäftigt, und der auch etliche Berührungspunkte mit ihrem Spezialgebiet der Geschlechtergeschichte hat. Durch die Entwicklung der Waffentechnik, speziell der Gewehre, die im Liegen nachgeladen werden konnten (im Gegensatz zu den früheren „Vorderladern“, bei denen die Munition durch die Mündung geschoben wurde), änderten sich auch die Anforderungen an die Soldaten. Statt für den Nahkampf mit dem Bajonett wurden sie jetzt für länger andauernde Stellungskriege ausgebildet, die Körpergröße war weniger wichtig als Ausdauer und Athletik. Bald wurden diese neuen Männlichkeitsideale auch auf den Turn- und Schulunterricht übertragen, und die Militarisierung des Schulwesens führte so weit, dass kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs zunehmend auch Schießübungen an Schulen stattfanden.

Schikanen statt „Erziehung“

„Drill oder Erziehung“ lautete – zumindest in der Theorie – die Kardinalfrage für die Ausbildung des „Soldatenkörpers“, was unter anderem damit zu tun hatte, dass mit der Allgemeinen Wehrpflicht nun vermehrt Vertreter aller Gesellschaftsschichten zum Dienst eingezogen wurden, die man als „Bürger in Uniform“ und weniger als beliebig zu schikanierendes „Material“ zu behandeln empfahl. Aber auch, wenn in den theoretischen Abhandlungen über die Ausbildung im Militär viel von Moral, Körperidealen und Erziehung die Rede war, am Ende ging es doch immer um die „Vervollkommnung in der Kunst zu tödten (!)“ (Emil Günther: Geist und Herz des österreichischen Soldaten. Wien 1867, S. 55).
Im dritten Teil ihrer Untersuchung, „Den Wehrdienst erfahren“, zeigt Christa Hämmerle, dass viele der theoretischen Abhandlungen über den Umgang mit den Wehrpflichtigen Theorie blieben, weil in der Praxis nicht einmal die herrschenden Vorschriften beachtet wurden. Die Lebenserinnerungen von „einfachen Soldaten“ berichten weniger von einer „Erziehung zum Mann“ als von Quälereien, Misshandlungen und Demütigungen. Der angestrebten „Vermännlichung“ der jungen Leute stand in der Realität eine „Entmannung“ gegenüber, indem man sie zunächst einmal erniedrigte und zu Tätigkeiten einteilte, die in der patriarchalen Gesellschaft außerhalb der Kasernen gemeinhin den Frauen zugewiesen wurden.

Zweifelhafter „Erfolg“

Ein Ziel verfehlte die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht auf jeden Fall: Sie konnte den Niedergang und schließlich das Ende der Monarchie nicht verhindern, die „Liebe zum Monarchen und zum Vaterland“ ging auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs endgültig verloren. Andererseits war die Militarisierung der Gesellschaft insofern erfolgreich, als der Widerstand gegen den Krieg im Jahr 1914 äußerst bescheiden blieb. Ein Erfolg, der Millionen Tote kostete und das Ende einer mehrhundertjährigen Herrschaft einleitete, ist mit dem Begriff „Pyrrhussieg“ wohl nur unzureichend umschrieben.

Christa Hämmerle: Ganze Männer? Gesellschaft, Geschlecht und Allgemeine Wehrpflicht in Österreich-Ungarn (1868-1914). Reihe Krieg und Konflikt, Campus Verlag, Frankfurt/M 2022, 591 Seiten, Hardcover, ISBN: 978-3-593-51491-8, 45 €

freitags um 5, Christa Hämmerle: „Ganze Männer? Die Allgemeine Wehrpflicht in Österreich-Ungarn und ihre Auswirkungen“
21.4., 17 Uhr
vorarlberg museum, Bregenz
www.vorarlbergmuseum.at

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