Charles Lloyd: „The Sky Will Still Be There Tomorrow“ Peter Füssl · Mai 2024 · CD-Tipp

„Als junger Mann, der immer ein Träumer war, glaubte ich naiverweise, ich könnte das Hässliche in der Welt mit Schönheit auslöschen. Für eine kurze Zeit konnten wir eine Veränderung wahrnehmen, aber sie war nicht von Dauer und begann zu bröckeln.“ In den Liner-Notes erinnert sich der Saxophonist, Flötist und Komponist Charles Lloyd an die 1960-er Jahre, in denen er mit seinem legendären Quartett mit Keith Jarrett, Cecil McBee und Jack DeJohnette auf allen wichtigen Festivals und in den größten Hallen spielte und maßgeblich am Soundtrack zur neuen gesellschaftlichen Gegenbewegung beteiligt war. Darauf folgten Jahrzehnte, in denen sich Phasen großen Erfolges mit jahrelanger, selbstgewählter Zurückgezogenheit aus jeglichem Musik-Business abwechselten, bis der Mann aus Memphis, Tennessee 1990 nochmals so richtig durchstartete und sein unglaublich fruchtbares Spätwerk einläutete – zuerst mit 16 erstklassigen Alben beim Münchner Label ECM, und ab 2015 mit einem Dutzend nicht weniger atemberaubender Produktionen bei Blue Note.

„Wegen der von COVID aufgezwungenen Abgeschiedenheit und der starken Zunahme der Gewalt im Frühjahr und Sommer 2020 wurde ich zunehmend unruhig. Meine Emotionen spielten verrückt. Mein Herz war wie verknotet, mein Verstand im Krieg mit der Situation. Eines Tages kam ich an den Mittagstisch und sagte Dorothy, dass ich mit Jason, Larry und Brian ins Studio gehen wolle, um ein Angebot der Zärtlichkeit zu machen.“ Dorothy Darr ist Lloyds Frau, Managerin und Koproduzentin, die dann nochmals drei Jahre brauchte, um die vielbeschäftigten Mitglieder des Wunschteams – Pianist Jason Moran, Kontrabassist Larry Grenadier und Drummer Brian Blade – terminlich zusammenzubringen. Anlässlich der Feierlichkeiten zu Charles Lloyds 85. Geburtstag im März 2023 war es dann endlich soweit, und der grandiose Vierer fand den Weg ins Studio, um 13 Lloyd-Kompositionen aufzunehmen, darunter sechs noch unveröffentlichte, und die zwei vom Bandleader arrangierten Spirituals „Balm in Gilead“ und „Lift Every Voice and Sing“. Letzteres fand um 1900 als „Negro national anthem“ den Weg in die Kirchen der Black Communities und gewann anlässlich der Proteste um den gewaltsamen Tod George Floyds nochmals an ganz besonderer Bedeutung. Dass Lloyds sich auf eindrucksvolle Weise in der Musik spiegelnder, spiritueller Ansatz diese aus den Fugen geratene Welt zu einer besseren machen wird, muss leider bezweifelt werden. Aber mit „The Sky Will Still Be There Tomorrow“ ist das Doppel-Album immerhin hoffnungsfroh betitelt – und das Titelstück entwickelt sich eindrucksvoll von einer Bebop-artigen Saxophonmelodie, die von Blade kraftvoll kommentiert wird, über chaotisch wirkende Ausbrüche und ein kalmierendes Blues-artiges Piano-Solo Morans, letztlich zu einem gefühlvollen Miteinander. Mit zwei Varianten von „Defiant, Tender Warrior“ wird das Album eingeleitet und beendet – der „trotzig zärtliche Krieger“ sorgt für sanfte Spannung und emotionale Höhepunkte fern jeglichen Spektakels. Dasselbe trifft auch auf „When The Sun Comes Up, Darkness Is Gone“ zu, und auch das mit mehr als 15 Minuten längste Stück „Sky Valley, Spirit of The Forest“ ist über weite Strecken von einem meditativen Charakter geprägt – Moran, Grenadier und Blade bereiten gefühlvolle Klangbilder, über die Charles Lloyd seine abgeklärten, aber höchst inspirierten und keineswegs kraftlosen Soli legt, die zwischendurch schon auch mal ganz ordentlich an Rasanz zulegen können. Freunde von Lloyds Flötenkunst sei „Booker’s Garden“ empfohlen, eine Reminiszenz an den Trompeter Booker Little, seinen frühen und bereits mit 23 Jahren verstorbenen Wegbegleiter – inklusive eines unglaublich rasanten Zwischenspiels von Moran, Grenadier und Blade. Und bei „Monk’s Dance“ lässt Jason Moran erwartungsgemäß die Tasten heiß laufen und schöpft nebenbei noch aus fünfzig Jahren Jazzpiano-Geschichte.

Tatsächlich könnte man jedes Stück anführen – ein Album ohne jegliche Schwachstelle, das wir gerne als „Angebot der Zärtlichkeit“ annehmen. Denn vier herausragende Individualisten führen ihre exzeptionellen Fähigkeiten in einem übergeordneten Gruppen-Sound zusammen, hören aufeinander, kommunizieren auf sensible Weise, geben Impulse und eröffnen Räume für die Mitspieler, ohne ihre subjektiven Fähigkeiten unter den Scheffel stellen zu müssen. Das funktioniert in der Musik anscheinend weit besser als im täglichen Leben. Leider.

(Blue Note) 

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Mai 2024 erschienen. 

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