Martial Solal: Live in Ottobrunn Peter Füssl · Dez 2022 · CD-Tipp

Ob „My Funny Valentine“ oder „Tea For Two“, „Lover Man“ oder „I’ll Remember April“, „Round Midnight“ oder die zu einem Medley zusammengefassten Ellington-Klassiker „Caravan“, „Sophisticated Lady“ und „Satin Doll“ – es ist unglaublich, wie einfallsreich und unkonventionell sich Martial Solal solchen vielgespielten Standards und Evergreens der Jazz-Literatur nähert. Wie er Stücke, die man längst in- und auswendig zu kennen glaubt, aus einer völlig unerwarteten Perspektive neu aufdröselt, wie er Altbekanntes dekonstruiert und rekonstruiert, rhythmische, harmonische und melodische Bocksprünge einbaut, aber letztlich immer doch respektvoll und wiedererkennbar am Original bleibt.

Das geschieht weder verkopft noch verbissen virtuos, sondern mit einer eindrucksvollen Leichtigkeit und einem enormen Spielwitz, dem sogar Allerweltsmelodien wie „Happy Birthday“ oder „Frère Jacques“ als Ausgangspunkte für verblüffende Jazz-Exkursionen dienen können. Der in Algier geborene und seit den 1950-er Jahren in Paris lebende Pianist, der mit Fats Waller und Art Tatum im Ohr aufgewachsen ist, aber auch von Bud Powell, Lennie Tristano und vielen anderen beeinflusst wurde, versteht es souverän, das vielfältige Vokabular der gesamten Jazz-Geschichte auszuschöpfen – gerade auch in Eigenkompositionen wie „Histoire de Blues“ und „Coming Yesterday“ oder in den bis zu acht Minuten langen Improvisationen. Dementsprechend begeistert reagierte das Publikum im kleinen Münchner Vorort Ottobrunn am 14. Dezember 2018 beim Live-Konzert, das nun auf zwei vom Pianisten Cornelius Claudio Keusch produzierten CDs mit durchwegs prickelnden eineinhalb Stunden Spielzeit dokumentiert ist. Keusch ist einer der zahlreichen Bewunderer des großen Franzosen unter den europäischen Tastenzauberern der nachfolgenden Generationen, denn vielleicht sollte man noch erwähnen, dass Martial Solal bei diesen Aufnahmen bereits 91 Jahre alt war. Nicht dass man dieses fortgeschrittene Alter dem vor musikalischen Ideen nur so sprudelnden und durchwegs begeisternden Solo-Auftritt in irgendeiner Weise anhören würde, soll das doch Solals letzter Auftritt im Ausland gewesen sein. Fortan will sich der nunmehr 95-Jährige vermehrt dem Komponieren widmen.

(GLM)

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