Camila Nebbia / Leo Genovese / Alfred Vogel: „Eyes to the Sun“ Peter Füssl · Sep 2024 · CD-Tipp

Der direkte Blick in die aufgehende oder in die untergehende Sonne ist eine in vielen Kulturen praktizierte meditative Übung, die dabei helfen soll, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und die Gedankenwelt zu klären, was wiederum Energie spenden und Heilung fördern soll. Falsch gemacht, kann das aber auch zu massiven Augenschäden, bis hin zur völligen Erblindung führen. No risk, no fun, ist man versucht zu sagen, und dass die drei Ende letzten Jahres in Buenos Aires an den Aufnahmen beteiligten Musiker:innen mit außerordentlichem Spaß und ungebremstem Enthusiasmus bei der Sache waren, ist aus jeder einzelnen Rille dieses bemerkenswerten Longplayers herauszuhören. Dabei bieten die in vier Sektionen unterteilten freien Improvisationen keineswegs leichte Kost für Otto und Ottilie Normalverbraucher, dafür aber reichlich unorthodoxes Tonmaterial für die Ohren fortgeschrittener Jazz- und Impro-Fans.

Die anfangs der 1990er Jahre in Buenos Aires geborene Camila Nebbia hat in ihrer Heimatstadt, aber auch im estnischen Tallinn, in Stockholm, Lyon und Hamburg studiert und wurde als eine der weltweit interessantesten Free-Jazz-Saxophonistinnen auch nach Berlin eingeladen, wo sie den um 20 Jahre älteren Alfred Vogel kennenlernte. Der in der Bregenzerwälder Metropole Bezau lebende Schlagzeuger, Perkussionist, Boomslang Records-Labelchef, Gründer und Organisator des unkonventionellen Festivals „Bezau Beatz“, verfügt ebenfalls über eine in unterschiedlichsten Bands ausgelebte, Genregrenzen-sprengende Liebe zur Musik – mit einem besonderen Faible für freie Improvisationen. Das trifft auch auf den international höchst gefragten, 45-jährigen, argentinischen Pianisten Leo Genovese zu, den man etwa von Produktionen mit Größen wie Joe Lovano, Wayne Shorter, Jack DeJohnette oder Esperanza Spalding, aber auch von seinem experimentierfreudigen Trio mit dem Kontrabassisten Demian Cabaud und Francisco Mela bzw. Marcos Cavaleiro an den Drums kennt. So ist es wenig verwunderlich, dass Genovese, der am Berklee College of Music studierte und einen Grammy für das „best improvised Jazz solo“ im Regal stehen hat, auch zu den großen Fans der „Bezau Beatz“ zählt, bei denen er schon mehrfach aufgetreten ist. „Eyes to the Sun“ liegen ausschließlich äußerst lebhafte Kollektiv-Improvisationen zugrunde, aus denen sich manchmal Song-artige Strukturen herauszuschälen scheinen. Es ist ein atemberaubender Mix aus Rauschhaftem, Hochexplosivem, Ekstatischem, in das auch nachdenkliche, suchende, meditative Passagen eingebettet sind. Genovese lässt in hochenergetischen Phasen seine Tasten in rasanten Läufen förmlich explodieren, attackiert die Hörgewohnheiten mit kraftvollen Clustern und wechselt auf „Glow“ zum Sopransaxophon, um sich mit der gleichermaßen ausdrucksstarken und einfallsreichen Camila Nebbia am Tenorsax aufs Heftigste zu duellieren. Alfred Vogels variantenreiches, gleichermaßen kraftvolles wie sensibles Rhythmusspiel verbindet, kommentiert, treibt voran und coloriert mit zusätzlichen Soundfarben das imposante Spektakel, das man zeitlich auch in der Blütezeit des Free-Jazz verorten könnte. Kaum zu fassen, dass Alfred Vogel nur wenige Wochen nach diesen Aufnahmen im Frühjahr 2024 die Diagnose „akute Leukämie“ in absolute Lebensgefahr und für Monate in Spitalsbetten bringen sollte. Und umso erfreulicher war die rasche Genesung, denn Vogel ist mittlerweile wieder bei Kräften und konnte bei den heurigen „Bezau Beatz“ im August für das Allstar-Ensemble Orchestra of Good Hope (nomen est omen!), in dem auch Nebbia und Genovese vertreten waren, energievoll die Trommeln rühren. „Eyes to the Sun“ wäre beinahe zu einem beachtlichen musikalischen Vermächtnis geworden, aber die musikalische Reise des Alfred Vogel ist noch lange nicht zu Ende. (Boomslang Records)

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Oktober 2024 erschienen.

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