Brad Mehldau: Ride into the Sun Peter Füssl · Okt 2025 · CD-Tipp

Der 55-jährige, in New York und Amsterdam lebende Brad Mehldau zählt zu jenen Top-Pianisten, die auf der permanenten Suche nach Abwechslung und Herausforderung regelmäßig mit ausgefallenen Konzeptalben überraschen – auf „After Bach“ (2018) beschäftigte er sich ausführlich mit dem großen Johann Sebastian, „Finding Gabriel“ (2019) und „Jacob’s Ladder“ (2022) sind von jahrelanger Bibellektüre und der Liebe zum Prog-Rock inspiriert, und „Your Mother Should Know: Brad Mehldau Plays the Beatles“ (2022) ist eine wundervolle Solo-Piano-Hommage an die epochalen Pilzköpfe aus Liverpool. Dabei sind das gerade mal die letzten vier von insgesamt 22 Veröffentlichungen auf seinem Stamm-Label Nonesuch – und nun Elliott Smith!

Das 1969 in Omaha/Nebraska geborene, in Dallas/Texas aufgewachsene und unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommene tragische Genie wurde nur 34 Jahre alt, schaffte es aber mit fünf zu seinen Lebzeiten veröffentlichten und zwei posthum erschienenen Alben zu Legenden-Status im Singer-Songwriter- und Indie-Rock/Pop-Business. Brad Mehldau hatte Smith schon nach seinem Umzug nach L.A. Mitte der 1990er Jahre bei den wöchentlichen, vom einflussreichen Produzenten Jon Brion geleiteten Sessions im Club Largo kennengelernt, wo unter anderem auch Rufus Wainwright, Fiona Apple, Elvis Costello oder Rickie Lee Jones vorbeischauten. Mehldau war sofort von den verführerischen Melodien und den magischen Harmonien begeistert, fand aber erst vor vier Jahren durch eine selbst durchlebte, schwere Depression den unverstellten Zugang zu dessen gleichermaßen wunderschönen wie todtraurigen, zwischen Verzweiflung und Hoffnung pendelnden Songs. Bei der musikalischen Ausgestaltung setzte Mehldau auf Soundfarbenpracht und Abwechslungsreichtum, interpretierte manches im Alleingang am Klavier, manches im Bandformat mit dem Grizzly Bear-Gitarristen Daniel Rossen und Mandolinenspieler Chris Thile (Punch Brothers), die fallweise auch singen. Felix Moseholm bzw. John Davis am Bass und der vielbeschäftigte Matt Chamberlain an den Drums überzeugen als hochkarätige Rhythmusgruppe. Und öfters fährt Mehldau auch mit einem 18-köpfigen Orchester unter der Leitung von Dan Coleman auf, das – mitunter beinahe am Kitschigen anstreifend – für ganz großes Kino im musikalischen Breitwandformat sorgt.


 

 


Mit einem sicheren Gespür hat Mehldau passende Arrangements für jeden der zehn Elliott Smith-Originals gefunden, die aber nur zum Teil mit den Lyrics realisiert wurden. Darunter „Between the Bars“ vom Album „Either/Or“ (1997), „Sweet Adeline“, „Tomorrow Tomorrow“ und „Everybody Cares, Everybody Understands“ vom Album „XO“ (1998), oder „Everything Means Nothing to Me“ und „I Better Be Quiet Now“ von Smiths letztem Album „Figure 8“ (2000) – manche Titel verweisen schon auf den Gemütszustand des zeitlebens drogenabhängigen und unter schweren Depressionen leidenden Ausnahmetalents. Passend dazu hat Brad Mehldau das mystische „Sunday“ aus der Feder Nick Drakes, den er als geistigen Verwandten von Smith sieht, und Alex Chiltons für die Band Big Star geschriebenen und von Elliott Smith gecoverten Song „Thirteen“, in das Konvolut aufgenommen. Als wichtige verbindende, Atmosphäre schaffende und Smiths Einflüsse aufnehmende und widerspiegelnde Elemente erweisen sich auch vier Mehldau-Eigenkompositionen. Die titelgebende, aus dem Song „Colorbars“ stammende Textzeile „Ride into the Sun“ wurde wegen ihrer Zweideutigkeit ausgewählt, weil sie gleichermaßen Vernichtung wie Erlösung suggeriert. „Ich sehe Elliott als jemanden, der gelitten und trotz seines Leidens schöne Musik gemacht hat, oder – noch komplexer – aus seinem Leiden heraus“, so Brad Mehldau, der Smith mit diesem Album ein unglaublich stimmiges, atmosphärisch dichtes und umwerfend vielseitiges musikalisches Denkmal gesetzt hat.

(Nonesuch/Warner) 

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