Bildungsaustausch zwischen Vorarlberg und Ural
Gerhard Wanner erinnert sich zurück: „Aufleuchten der Freiheit. Russland 1990-2001“
Raphael Einetter · Sep 2023 · Literatur

In seiner Neuerscheinung gewährt der Vorarlberger Historiker Gerhard Wanner dem Lesepublikum sehr persönliche und illustrationsreiche Einblicke in das erste Jahrzehnt der Russischen Föderation, das er selbst als Gastprofessor an zwei Universitäten in Jekaterinburg erlebte. Beginnend mit April 1991, als die Stadt noch Swerdlowsk hieß und die Sowjetunion kurz vor ihrem Zusammenbruch stand, besuchte Wanner mehrfach die Metropole in der westsibirischen Tiefebene. Im vorliegenden Werk bettet er die kurzweilige Schilderung seiner Erlebnisse immer wieder ausführlich in den historischen Gesamtkontext ein.

Autobiographische Zeitgeschichte

 Gerhard Wanners Lehrtätigkeit an der Uralisch Staatlichen Gorki-Universität sowie an der in derselben Stadt befindlichen Staatlich Technischen Universität ging die Teilnahme an einer geführten Reisegruppe im März 1990 voraus. Durch den Kontakt mit Edmund Imhäuser, dem Geschäftsführer der Vorarlberger Zweigstelle der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft, war es dem damaligen Lehrer am BORG Feldkirch möglich, die Städte Moskau und Leningrad (heute St. Petersburg) zu besuchen. In einem Interview mit Radio Moskau, zu dem er im Zuge dieser Reise gebeten wurde, gab er bereitwillig Auskunft über seine Eindrücke zur gegenwärtigen Situation der UdSSR. Die Meinung eines Ausländers sei, wie der Autor noch an weiteren Stellen im Buch hervorhebt, für die damals vom wirtschaftlichen Umbruch betroffene Bevölkerung, die nur wenig Zugang zu westlichen Medien gewohnt war, eine mit Interesse aufgenommene Rarität gewesen. So verwundert es schließlich nicht ganz, dass die Radiosendung auch im 1.400 km von Moskau entfernten Swerdlowsk von einem jungen Universitätsdozenten gehört wurde, der daraufhin den Kontakt zu Wanner suchte. Dmitry Mironov, u. a. Obmann des Sowjetisch-Österreichischen Vereins der Stadt, war der deutschen Sprache mächtig und hatte für seine Dissertation selbst bereits zur österreichischen Zeitgeschichte geforscht. Durch dessen Vermittlung wurde Wanner bald erstmals für einen zehntägigen Aufenthalt samt Vortragstätigkeit eingeladen, wobei ihm insbesondere die anfangs nicht vorhandene Diskussionskultur in Erinnerung geblieben war. Denn Fragen gab es nach seinen Ausführungen keine, was anscheinend an der verbreiteten Ansicht lag, dass derjenige „dumm ist, der Fragen stellt“. Wanner, der auf deutsch unterrichtete, behalf sich mit dem Angebot, anonym auf Zetteln verfasste Fragen zu beantworten, räumt zum Ende dieser Anekdote jedoch ein, dass der Dolmetscher wohl nur „staatskonforme“ Inhalte übersetzte. Bis Oktober 1993 folgten sieben weitere Vortragsaufenthalte in der Stadt am östlichen Ausläufer des Uralgebirges mit wöchentlich bis zu 25 Unterrichtsstunden. Dabei behandelte er in eigenen Schwerpunkten beispielsweise Themen wie die „Demokratischen Systeme Europas“, „Wirtschaftstheorien in Europa nach 1917“ oder die „Wirtschaftliche Ausbeutung osteuropäischer Staaten durch NS-Deutschland“. Der begonnene Bildungsaustausch funktionierte aber in weiterer Folge auch in die andere Richtung, und so besuchten zwischen 1991 und 1996 schulische sowie universitäre Delegationen aus Jekaterinburg mehrmals Vorarlberg. All das war schon früh mit den wirtschaftlichen Interessen Vorarlberger Unternehmen verbunden, die sich Vorteile auf den nun neu zugänglichen Märkten versprachen, wo unter anderem Fruchtsäfte stark nachgefragt wurden.

Kein Gegenwartsbezug

Die Leserinnen und Leser erfahren von Wanners Erlebnissen dabei meist in chronologischer Reihenfolge. Der Autor versteht es dabei aber gekonnt, immer wieder ausführliche Exkurse in die sowjetisch-russische sowie bei Bedarf in die österreichische bzw. gesamteuropäische Geschichte einzuflechten. So widmet er sich etwa auch der Nachkriegsbeziehung zwischen „Ost und West“ und ordnet dabei die Ereignisse vom Österreichischen Staatsvertrag bis zu Michail Gorbatschows Perestrojka-Politik und dem Fall der Berliner Mauer historisch ein. Nach Einladungen in den Jahren 1995 und 1997, als er zu den in Russland nur dürftig aufgearbeiteten Themen des „Großen Vaterländischen Kriegs“ und den Revolutionen von 1917 referieren durfte, reiste er im Mai 2001 letztmals nach Jekaterinburg. Obwohl Wanner sich in seinem Werk, in dem er sich immer wieder auf seine Tagebuchaufzeichnungen und Notizen stützt, bewusst auf den Zeitraum bis 2001 zu beschränken versucht, reichen manche zeitgeschichtlichen „Abstecher“ schließlich doch fast bis in die unmittelbare Gegenwart und somit in den Zeitraum der Machtübernahme durch Wladimir Putin zur Jahrtausendwende, den Wanner großteils nicht mehr selbst in Russland erlebte. In einem kurzen Abschnitt berichtet Wanner außerdem über die von ihm bereits Mitte der 90er Jahre negativ empfundene Einstellung von Teilen der russischen Gesellschaft gegenüber einer souveränen Ukraine. Eine Vertiefung dieser Zusammenhänge vermisst man – vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage – in den Ausführungen zwar, die Abgrenzung zur intensiveren Behandlung des russischen Angriffskrieges ist schlussendlich allerdings nachvollziehbar, denn mit den positiven Entwicklungen seiner persönlichen Erlebnisse rund 25 Jahre zuvor lässt sich dies nur schwer in Verbindung setzen. Bemerkenswert sind dafür die herausgearbeiteten Querverbindungen zwischen russischen wie ukrainischen Flüchtlingen sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Vorarlberg auf der einen Seite und den Vorarlberger Wehrmachtssoldaten in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern auf der anderen Seite. Stimmig erscheint in diesem Zusammenhang, dass Wanner die letzten Seiten seines Buch dem langjährigen Wegbegleiter und Kollegen Herbert Wehinger überlässt. Dieser berichtet darin von seiner Reise in einen ebenfalls in Sibirien liegenden Ort, an dem sein Vater 1947 in Kriegsgefangenschaft ums Leben kam. Eindrücklich schildert Wehinger dabei die Suche nach Zeugnissen von Gefangenenlager und Friedhof im nördlich von Jekaterinburg gelegenen Karpinsk und rundet mit diesem Beitrag den Band ab.

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR September 2023 erschienen.

Gerhard Wanner: Aufleuchten der Freiheit. Russland 1990-2001.Eigenverlag in Kooperation mit der AK Vorarlberg und der Johann-August-Malin-Gesellschaft, September 2023, 280 Seiten, ISBN 978-3-200-09260-0
BUchpräsentation voraussichtlich im Oktober in der AK Feldkirch

www.ak-vorarlberg.at

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