Angelin Preljocajs zeitlose Tanzkunst
Das Ballet Preljocaj begeisterte zur Eröffnung des „Bregenzer Frühling“ 2024
Peter Füssl · Mär 2024 · Tanz

„Noces“ wurde 1989 uraufgeführt, „Annonciation“ 1995 und die jüngste Choreographie, „Torpeur“, nach der Pandemie im Jahr 2023. Der grandiose Dreierpack ist also über einen Zeitraum von beinahe dreieinhalb Jahrzehnten hinweg entstanden, und es wäre kaum möglich, die drei Stücke ohne entsprechendes Vorwissen zeitlich einzuordnen. Gibt es einen besseren Beweis für die Zeitlosigkeit des renommierten französischen Choreographen mit eigenem Tanzzentrum in Aix-en-Provence und internationaler Ausstrahlung in die wichtigsten Tanzzentren in aller Welt? Dementsprechend groß war das Publikumsinteresse am Eröffnungsabend des diesjährigen „Bregenzer Frühlings“, zumal sich das Stammpublikum des Festivals vielleicht auch noch an das grandiose „Blanche Neige“ erinnerte – Preljocajs in von Jean Paul Gaultier entworfenen Kostümen getanztes „Schneewittchen“, das 2011 mit Begeisterungsstürmen im Festspielhaus gefeiert wurde.

Angelin Preljocaj hat seine Compagnie Mitte der 1980-er Jahre gegründet und seitdem rund sechzig Choreographien geschaffen – nicht nur für sein eigenes Ensemble, sondern auch als Auftragswerke für so renommierte Compagnien wie das Ballet de l’Opéra de Paris, das New York City Ballet oder die Ballettcompagnie an der Mailänder Scala. Preljocaj selber startete seine Tanzkarriere mit klassischem Ballett, das er aber bald durch Ausbildungen bei Karin Waehner an der Schola Cantorum de Paris und bei Merce Cunningham in New York in Richtung zeitgenössischen Tanz erweiterte. Ähnlich breitgestreut sind auch seine musikalischen Interessen, die sich von den Klassikern, über Ikonen der zeitgenössischen Musik wie John Cage oder Karlheinz Stockhausen, bis zu aktuellen Electronic-Künstlern erstrecken. Beste Voraussetzung also für einen spannenden und abwechslungsreichen Ballettabend, zumal die drei zwischen 20 und 35 Minuten langen Choreographien bestens zusammen funktionieren, und das Ballet Preljocaj sie sicher nicht zufällig schon öfters in dieser Konstellation präsentiert hat.

Annonciation– intimer Pas-de-Deux

Nicht bei den Gebrüdern Grimm wie bei „Blanche Neige“, sondern beim Lukasevangelium in der Bibel hat sich Angelin Preljocaj für „Annonciation“ bedient. Vom in der Malerei im Zusammenhang mit „Mariä Verkündigung“ häufig verwendeten Bild des Hortus conclusus, dem „verschlossenen Garten“, der die Unversehrtheit und Jungfräulichkeit symbolisieren soll, bleibt bei Preljocaja nur eine niedrige (Garten-)Mauer als einziges Bühnenelement. Zu einer Mischung aus Vivaldis „Magnificat“ und Kindergeschrei schält sich erst das Gesicht und schließlich die ganze Figur der auf dieser Mauer sitzenden Jungfrau Maria aus der vollkommenen Dunkelheit heraus, und dorthin wird sie auf dieselbe Weise 20 Minuten später auch wieder verschwinden. Dazwischen aber verkündet ihr der Erzengel Gabriel, ebenfalls von einer Frau getanzt, die letztlich religionsbegründende Frohbotschaft des Herrn. Seine Aktivitäten sind mit den teils ganz schön aggressiven elektroakustischen Tönen der „Crystal Music“ des kanadischen Komponisten Stéphane Roy verbunden. Während der Himmelsbote im intim wirkenden Pas-de-Deux den kraftvollen und aktiven Part innehat, verhält sich die Jungfrau eher passiv und zögerlich, eine längere Passage, in der die Körpersprache durch besonders große Schönheit und Ruhe geprägt ist, verläuft überhaupt in absoluter Stille. Als Folge der Verkündigung, die zugleich als Befruchtung zu verstehen ist, weichen Angst und Irritation zunehmend einer völligen Akzeptanz und Ergebenheit, was sich auch aus den völlig synchronen, teils mit wundervoller Spannung aufgeladenen Bewegungen Marias und des Engels ablesen lässt. Eine als Pas-de-Deux zwischen zwei mit kurzen, schlichten Kleidchen bekleideten Frauen inszenierte, ungemein intensive Begegnung, die – wenig verwunderlich – 1997 mit dem begehrten New Yorker Bessie Dance Award ausgezeichnet wurde.

„Torpeur“ – ein Lob der Trägheit

Glücklicherweise basiert „Torpeur“, in dem es um Trägheit und Erstarrung geht, nicht auf dem biblischen Stoff, denn dort zählen diese Eigenschaften zu den Todsünden, und Preljocaj wäre möglicherweise dort gelandet, wo sich David Fincher vor bald dreißig Jahren zu seinem epochalen Streifen „Se7en“ inspirieren ließ. Vielmehr geht es Angelin Preljocaj um jene Trägheit, die etwas bei zu heißem Wetter eintritt und jede Bewegung nahezu verunmöglicht, wo Bewegungslosigkeit nahezu zur einzig möglichen Existenzform wird. Sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer – mit leuchtend hellen, langen, in den Bewegungen spielerisch schwingenden Gewändern bekleidet – beleben die völlig leere Bühne höchst schwungvoll zu den seriellen Tönen des Musikkollektivs 79D mit fröhlichem, quicklebendigem Treiben. Aber die Musik und damit auch die Bewegungen werden zunehmend langsamer und bedächtiger, das Tanzvokabular wird immer mehr im Zeitlupentempo zelebriert. Das führt zu einer anderen Form von Sinnlichkeit, einem genüsslichen sich der Langsamkeit Ergeben, einem Schwelgen in Lethargie. Nach einem kommunikativen Zwischenspiel in Dreiergruppen, in dem man sich schließlich eines Großteils der Kleidungsstücke entledigte, endet „Torpeur“ in einem ausgefallenen Finale, bei dem alle Akteure in einem großen Kreis auf dem Boden liegen und abwechselnd Arme und Beine in einer sonderbar anmutenden Choreographie rhythmisch in die Höhe recken. Es wäre noch interessant zu wissen, ob sich Angelin Preljocaj auch durch die von der Corona-Pandemie bedingten Lockdowns zu diesem 2023 uraufgeführten Stück inspirieren ließ. 

„Noces“ – Bräute im Widerstand

Angelin Preljocaj wurde zwar 1957 in einer kleinen Vorstadt von Paris geboren, entstammt aber einer ursprünglich im heutigen Montenegro ansässigen albanischen Familie, die aus politischen Gründen nach Frankreich geflüchtet war. In der 1989 entstandene Choreographie „Noces“, die längst zu den vielgespielten Klassikern im Oeuvre Preljocajs zählt, verarbeitet er seine Erinnerungen an die alles andere als friktionsfreien Balkan-Hochzeiten, in denen oftmals junge Bräute von ihren Familien aus finanziellen Gründen oder zwecks Erhöhung der Familienehre an ältere Männer verschachert wurden. Entsprechend Dramatisches spielt sich auch in den 35 Minuten zur archaisch kraftvoll wirkenden Musik von Igor Strawinskys Tanzkantate „Les Noces“ ab, wo das Brautpaar gleich in fünffacher Ausführung im Geschlechterkampf zu sehen ist. Die Männer in schwarzen Hosen, weißen Hemden und dunkler Krawatte, die Damen in kurzen, bunten, folkloristisch anmutenden Kleidern. Die zwangsverheiratete Braut wird ebenfalls in fünffacher Ausfertigung als weißgewandete, lebensgroße Stoffpuppe durch den Saal geworfen – ein Symbol des Missbrauchs und hoffnungsloser Machtlosigkeit. Aber die Frauen zeigen sich widerständig gegen die tradierten Formen der Unterwerfung, zelebrieren Wut und Stärke, und das Tanzvokabular ist gleichermaßen von Schönheit, Wildheit und Gewalt geprägt. Die Wirtshausbänke werden um- und betanzt, dienen als Absprungbasis für gewagte Sprünge, die auch den die Frauen auffangenden Partnern größte Konzentration und Anstrengung abfordern. Das Schlussbild erscheint gespenstisch, wenn die Bräute am Arm der Bräutigame langsam ins Dunkle schreiten. Man ahnt, dass diese Kämpfe um ein Selbstbestimmungsrecht der Frau noch lange nicht ausgefochten sind – und dass diese 35 Jahre alte, ungemein kraft- und energievolle Choreographie Angelin Preljocajs leider auch weiterhin und ohne absehbares Ende nichts an Aktualität verlieren wird. Kein Wunder also, dass das Ballet Preljocaj mit lange anhaltendem, begeistertem Applaus verabschiedet wurde.

Weitere Termine beim „Bregenzer Frühling“ 2024
16.3.2024       Fouad Boussouf/Le Phare – CNN du Havre Normandie
4.5.2024         Sharon Eyal/Gai Behar – L-E-V Dance Company
10.5.2024       Nadav Zelner/Crystal Pite/Ohad Naharin – Nederlands Dans Theater 2
18.5.2024       Igor Levit/Richard Siegal – Ballet of Difference
16.-25.5.2024 aktionstheater ensemble „All About Me – Kein Leben nach mir”
www.bregenzerfruehling.com

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