Andreas Schaerer / Kalle Kalima: „Evolution“ Peter Füssl · Okt 2023 · CD-Tipp

Falls Ihnen – was unsereinem kaum vorstellbar ist – der in Bern lebende Vokalartist Andreas Schaerer immer eine Spur zu verrückt, zu schräg, zu experimentell gewesen sein sollte, könnte sein jüngstes Album „Evolution“ durchaus auf Ihrer Wellenlänge liegen, denn es hört sich über weite Strecken wie ein exquisites Singer-Songwriter-Album an.

Ging es in den Projekten mit seiner Stamm-Band Hildegard lernt fliegen, in seinen Quartetten mit Biondini/Kalima/Niggli bzw. Parisien/Peirani/Wollny oder dem großorchestralen „The Big Wig“ mit dem Lucerne Festival Academy Orchestra vielfach um schwindelerregende Stimmakrobatik, verblüffendes Beatboxing oder beispielsweise die täuschend echt wirkende, vokale Nachahmung eines brillanten Trompetensolos, so stehen nun „klassische“ Songs mit klaren Strukturen, eingängigen Melodien und ernsthaften Texten im Vordergrund – und Andreas Schaerers pure, auf technische Kabinettstückchen weitgehend verzichtende, äußerst angenehme Singstimme. Ihm zur Seite steht ein alter Weggefährte, der in Berlin lebende finnische Gitarrist Kalle Kalima, der in einem guten Dutzend unterschiedlichster Bandprojekte mit seiner außergewöhnlichen Saitenkunst ein breites Spektrum zwischen sehr experimentell und relativ traditionell abdeckt. Der Stimmungszauberer Kalima findet auf akustischer und E-Gitarre nicht nur für jeden Song das perfekt passende musikalische Outfit, sondern hat – teils gemeinsam mit seiner Frau Essi – auch gleich die Hälfte des Repertoires beigesteuert. Scharer/Kalimas Idee, sich zwecks wirkungsvoller Ausformung des Tieftonbereichs den US-amerikanischen E- und Kontrabass-Spezialisten Tim Lefebvre zu holen, der noch dazu über einschlägige Erfahrungen unter anderem bei David Bowie, Elvis Costello, Sting oder Jamie Cullum verfügt, hat sich ebenfalls als Glücksgriff erwiesen. So geht’s nun in der wundervollen Ballade „Rapid Eye Movements“ um Gedankenkontrolle und Überwachungsstaat und im flotten und witzigen „Multitasking“ um zwanghafte Selbstoptimierung. Letzteres ist übrigens ebenso mit einem grandiosen Mouth-Trumpet-Solo veredelt wie das von einer wilden Obsession handelnde „Piercing Love“. Und natürlich lassen Schaerer und Kalima mancherorts auch ihren avantgardistischen Vorlieben freien Lauf, etwa im musikalisch vielschichtigen Titelsong „Evolution“, beim rasanten Beatboxing auf „SloMo“ oder dem mittels Falsett-Gesangs und verzerrt rockender Gitarre psychedelisch aufgeladenen „Trigger“. Titel wie „Sphere“ oder „Song Yet Untitled“ wiederum überzeugen mit stimmungsvoller Melancholie. In Summe also ein facettenreiches und unterschwellig komplexes Album, dessen eingängige Songs sich aber mühelos in die Gehörgänge einnisten. Solch einen Spagat muss man erst einmal schaffen. (ACT)

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Oktober 2023 erschienen.

Konzert-Tipps: 8.11. Unterfahrt München, 9.11. Bosco Gauting, 13.11. Moods Zürich, 16.11. Porgy & Bess Wien, 18.2.24 Klangreich Romanshorn

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