Allison Russell: „The Returner“ Peter Füssl · Nov 2023 · CD-Tipp

Welch eine unter die Haut gehende, wandlungsfähige und ausdrucksstarke Stimme, welch abwechslungsreicher, farbenfroher Soul, Gospel, Pop, Jazz, Blues, Folk, Bluegrass und weitere Americana-Formen souverän vereinender Sound-Mix, welch exzellente Arrangements und welch mitreißende und lässige Grooves! Die warmherzigen, plötzlich in orchestralen Pomp umschlagenden Call-and-response-Gesänge des Openers „Springtime“, der farbenreiche Schmelz des Titelstücks „The Returner“, das funkig davonpreschende „All Without Within“, das nach einer Voodoo-Session à la Dr. John klingende „Demons“ oder das an Gloria Gaynors 80-er-Jahre Disco-Pop orientierte „Stay Right Here“ – Russells Nachfolge-Album ihres vor zwei Jahren erschienenen, vierfach Grammy-nominierten und mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Solo-Debüts „Outside Child“ gräbt tief in der Schatzkiste schwarzer amerikanischer Unterhaltungsmusik.

Doch die 42-jährige Singer-Songwriterin, Klarinettistin, Banjo-Spielerin und Dichterin aus dem kanadischen Montreal, die vor allem auch mit der Frauen-Banjo-Supergroup Our Native Daughters bekannt geworden ist, möchte ihr – mit der aus rund zwei Dutzend ausschließlich aus Musikerinnen und Sängerinnen bestehenden The Rainbow Coalition realisiertes – musikalisches Schaffen in einem weitaus größeren Kontext verstanden wissen: „Mein Ziel mit ‚The Returner‘ ist – klanglich, poetisch und spirituell – eine radikale Rückgewinnung der Gegenwart, eine Echtzeit-Vereinigung von Körper, Geist und Seele. Dieses Album ist eine viel tiefere Artikulation von Rhythmus, Groove und Synkopierung. Groove, der das Selbst zurück in den Körper bringt, Groove, der sinnliche und sexuelle Handlungsfähigkeit und Entfaltung feiert, Groove als dringender Aufruf zum Handeln und zum politischen Aktivismus. Mit einem Wort, es ist funkiger. Aber wie in der Geschichte von allem, was funky ist, geht es nie nur um eine Party. Es ist ein Multiversum von Energien, das die Feier und den Kampfschrei miteinander verbindet. Denn während die Umarmung der Gegenwart eine Feier ist, ist sie gleichzeitig ein bedingungsloser Sprung in die Schlacht – kulturell, politisch, ökologisch.“ Allison Russell ist eine kämpferische Aktivistin für Frauenrechte und gegen Rassismus und Diskriminierung der Black Community. Schon in ihrem letzten Album thematisierte sie ihre düstere Kindheit, den erlittenen Missbrauch durch den Adoptivvater und die zermürbenden Lebensverhältnisse, sie verharrt aber nicht in der Opferrolle, sondern eröffnet neue Perspektiven und proklamiert auf stolze, selbstbewusste und hoffnungsvolle Weise Widerständigkeit, Selbstermächtigung und Befreiung – etwa im mitreißenden, Banjo-geleiteten „Eve Was Black“ („Eve was Black, didn’t you know? / Is this why you hate my Black Skin so?”) oder im an den 70-er Jahre Philly-Soul erinnernden „Shadowlands“ („I woke up from a goddamn nightmare / Just to find the house was on fire“). Von besonderer Eindringlichkeit ist das sich permanent dramatisch steigernde und schließlich in der Zeile „And black is beautiful and good“ endende „Snakelife“, ehe das Album mit dem auf Englisch und Französisch gesungenen, möglicherweise melodiösesten, hymnischsten und – weil die Wildheit und Kraft der nächsten Generation beschwörend – hoffnungsfrohesten „Requiem“ aller Zeiten ins Finale geht. „The Returner“ hat trotz Tiefgangs und ernsthafter Themen nichts jammervoll Moralisierendes oder Zeigefingerhaftes an sich, sondern vereint zukunftsorientiertes Self-Empowerment mit purem musikalischem Vergnügen.

(Fantasy/Universal)

Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR November 2023 erschienen.

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