Alice Zawadzki, Fred Thomas, Misha Mullov-Abbado: „Za Górami“ Peter Füssl · Okt 2024 · CD-Tipp
Die Sängerin und Violinistin Alice Zawadzki, der in Jazz-Kreisen durch seine Arbeit mit der Sängerin Elina Duni bekannt gewordene Pianist Fred Thomas und der Kontrabassist Misha Mullov-Abbado, ein Sohn des Dirigenten Claudio Abbado und der Geigerin Viktoria Mullova, zählen seit Längerem zu den interessantesten Persönlichkeiten der stilistisch vielfältigen und höchst innovativen Londoner Jazz-Szene. Wobei die stilistisch vielgestaltige Musik des 2017 formierten Trios zwar durch die dem Jazz innewohnenden Freiheiten beeinflusst wird, tatsächlich aber jegliche Genregrenzen hinter sich lässt und sich irgendwo zwischen unterschiedlichen Folk-Traditionen, freier Improvisation, zeitgenössischer Kammermusik und eben Jazz bewegt.
Das Titelstück „Za Górami“ geht auf ein altes polnisches Volkslied zurück, wird hier aber vom Trio auf höchst eigenwillige Weise dramatisiert und inszeniert und zeitigt – wie auch die anderen Titel dieses erstaunlichen, im Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano aufgenommenen und von Manfred Eicher produzierten Debütalbums – eine unglaublich starke emotionale Wirkung, auch wenn man der Sprache nicht mächtig ist. Das gilt auch für die in Ladino getexteten Lieder sephardischer Juden, die die Hälfte des Repertoires ausmachen. In „Dezile A Mi Amor“ und „Nani Nani“ geht es um flehende, aber auch untreue Liebhaber, „Los Bilbilikos“ ist der innige Appell der Nachtigall an den Frühling, und „Dame La Mano“ und „Arvoles Lloran Por Lluvias“ sind von Wehmut und Trauer, aber auch Widerständigkeit geprägt. Alice Zawadzki verleiht jedem Lied mit ihrer klaren, ausdrucksstarken Stimme, die unendlich zart und gleichermaßen kraftvoll klingen kann, einen ganz eigenen Charakter. Wobei der Part von Misha Mullov-Abbado und Fred Thomas, der nicht nur Piano spielt, sondern zwecks Klangfarbenerweiterung auch zum mittelalterlichen, italienischen Streichinstrument Vielle greift und an den Drums auch Perkussives beisteuert, weit über die übliche Begleitfunktion hinausgeht. Ihre musikalischen Einfälle rücken die Stimme zwar ins Rampenlicht, tragen aber auch unglaublich viel zur intensiven Atmosphäre bei, die über das gesamte Album hinweg etwas auf seltsame Weise Zeitloses und verträumt Nächtliches ausstrahlt. Das funktioniert bei Zeitgenossen wie dem renommierten argentinischen Filmkomponisten Gustavo Santaolalla („Suéltate Las Cintas“) oder beim venezolanischen Sänger und Komponist Simón Díaz („Tonada De Luna Llena“) ebenso eindrucksvoll, wie beim 400 Jahre früher anzusiedelnden franko-flämischen Renaissance-Komponisten Nicolas Gombert („Je Suis Trop Jeunette“). Zeitlich weit auseinander Liegendes lässt sich aber auch in einem Stück perfekt zusammenbringen, wenn etwa Fred Thomas einen Text von James Joyce mit einem monodischen Muster aus der Barock-Musik kombiniert. Und dass das alles zusammen wie aus einem Guss wirkt, macht das wirklich Zauberhafte dieses Albums aus, das weit über die Jazz-Szene hinaus großes Interesse verdient!
(ECM/Universal)
Dieser Artikel ist bereits in der Print-Ausgabe der KULTUR Oktober 2024 erschienen.