Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Peter Niedermair · 07. Mai 2021 · Aktuell

Tage der Utopie. Samstag, 1. Mai 2021, Workshop Bildungshaus Arbogast, und Vortrag Götzis AMBACH: Nora Wilhelm – „Systemwandel vorantreiben: Die Reise ins Unbekannte“ - Wo-Man is the Measure - Change als Haltung und Manifest

Ouverture. Die Skulptur. Drüben im Garten bei M und M. Anstoß zum aufrechten Gang. Dabei muss ich um sie herumgehen. Vor mir dekliniert sie das Alphabet der Augen. Komponiert die Flächen und Linien. Die Syntax. Die Stele als Symbol für den aufrecht stehenden und gehenden Menschen. Wie bei Giacometti. Die Figuration ist das Elementare. Da kann Christo in Basel im Park hinter dem Beyeler die Bäume einpacken. Bis er Gaiß kriegt. So wie der Geiger der Geige den Ton gibt. Oder Lucas die Viola d’amore spielt. Man hört auch John Coltrane. Wie immer bei ihm. U. würde sich derweil bei M einen Koffer ausleihen. Führe nach Varese. Wieder einmal. Zeige Plastik als Tektonik. In der Semantik der Übergänge. Aus der Katamnese der Traumatisierungen. So als formte U. seine Figuren aus der Erinnerung. Diese Transformation in Plastizität erscheint als die nach Innen geschichtete Form. Und wenn die Figur da ist, ist alles schon da. Kann ganz alleine stehen. Mit ihrer Wirbelsäule. Die der Künstler mit beiden Händen nach oben greifen kann. Wie Wotruba. Drüben. Unter den Bäumen. Ich gehe hin und her. Lirum larum Löffelstiel. U. ist avant. Auch wenn er zurückschaut. Ist hier und dort. Und yonder. Pardesse und Paradies. Die Figur als politisches Manifest. Das Manifest vom aufrechten Gang. Wo-Man is the Measure. Gerade in der Veränderung. Man muss sich einlassen auf dieses Sehen, um der Figuren magische Energie zu begreifen. Die ihnen eingetexteten Erfahrungen lesen. Über die Existenz. Den Schmerz. Die Angst. Die Schönheit. Und Liebe. Weil wir Menschen sind.

Nora Wilhelms Auftritt in Arbogast und Götzis führt uns am Samstag, 1. Mai 2021, längst vor es um Prozesse des Systemwandels geht, an Menschenbilder heran. Ohne pädagogisierenden Zeigefinger. Nur senkrecht zur Achse der Empirie. Dadurch wird das zunächst unmöglich Scheinende leicht. Im aufrechten Gang. Sie, die junge Referentin aus der benachbarten Schweiz, die sich seit ihrer Jugend im Bereich des sozialen Wandels engagiert, erstmals mit 15 Jahren, als sie ein paar Monate in Toronto/Canada war. Dort hat sie von der Abholzung des Regenwalds im Amazons gehört, vom Völkermord in Ruanda, von der Realität der Schlachthöfe, von Kriegen und vom Klimawandel. Dies weckte sie auf aus der idyllischen Blase, in der sie – wie sie im Gespräch mit Hans-Joachim Gögl, abgedruckt im Programmheft zu den Tagen der Utopie 2021, S. 80, sagt. Dieses Aufwachen schockierte sie, machte sie traurig und erfüllte sie mit Wut. Doch allmählich verwandelten sich diese Gefühle „in eine unbändige Bereitschaft, zu Veränderung beizutragen, (…) andere junge Leute zu ermutigen, sich ebenfalls zu engagieren.“

Orte für die Phantasie und für die mentalen Abenteuer, für die es Zeit braucht.

Nora Wilhelm steht für einen neuen hoffnungsvollen Zugang. Christoph Drexel, mit dem Manuela Schwärzler im Mai-Heft 2021 der „Kultur – Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft“ ein Gespräch führte, stellt Nora Wilhelm vor und beginnt mit einer kurzen prägnanten Einführung zum big Picture der gegenwärtigen Klimakrise, betont die Zunahme der Treibhausgase seit Mitte des 18. Jhts. und argumentiert, wie wir das Klimaziel erreichen und damit die Welt verändern können.

Um die globale Erwärmung unter dem gefährlichen Ausmaß von zwei Grad zu halten, müssen die jährlichen CO2-Emissionen von derzeit zwölf auf eine Tonne pro Person reduziert werden. Wie dieses Vorhaben gelingen kann, wird in Christoph Drexels Buch präzise berechnet. Die einzelnen Lebensbereiche werden durchleuchtet, es werden Einsparpotenziale aufgespürt, die nicht nur dem Klima guttun. Potenziale der Effizienz, die sich auch wirtschaftlich lohnen, werden ermittelt, und eine dekarbonisierte Energieversorgung, die technisch machbar und leistbar ist, wird beschrieben. Im letzten Teil seines 2018 erschienenen Buch „Zwei Grad. Eine Tonne“ findet sich eine Skizze des wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Wandels, der bestimmte Lenkungsmaßnahmen braucht, um die Erreichung von Zwei Grad. Eine Tonne. rechtzeitig zu ermöglichen.

„Bei sich selbst beginnen aber nicht bei sich selbst enden.“ Martin Buber.

Die Referentin Nora Wilhelm gehört, wie oben schon kurz angedeutet einer jungen Generation an, die entlang ihrer zahlreichen Erfahrungen initiativ wurde und sich engagiert; sie hat in St. Gallen,  Genf und Cambridge Internationale Beziehungen studiert; sie war TEDx Speakerin und eröffnete die ETH-Ringvorlesung  zur Agenda 2030. Von 2014-2016 leitete sie das Europäische Jugendparlament für die Schweiz. Derzeit ist sie berufsbegleitend in einem Masterstudienlehrgang zu Sozialer Innovation an der Universität Cambridge. Sie engagiert sich in der Collaboratio helvetica, die ihr das geeignete Instrumentarium an die Hand gibt, zum Wandel auf systemischer Ebene beizutragen.

Die Musik bewegt sich wie jede Kunst in einem Kontext

Bevor Nora Wilhelm Luft für ihren Vortrag holt, gibt es Musik. Und die bewegt sich, wie jede Kunst in einem Kontext, der mit diesem zusammen rezipiert wird. Wie jeden Abend vor den Vorträgen spielen Christoph Reuter und Juri de Marco ein Thema von Antonín Dvořák, dabei heben die beiden Musiker-Komponisten jeweils die Kernthesen eines Satzes aus der „Sinfonie aus der Neuen Welt“ hervor, alles in e-Moll, nutzen die Sprache einer Tonart, und erweitern diese mit neuen Tönen. Wie die thematische Verbindung glückt, konnten wir bisher an allen Abenden mit zunehmender Begeisterung hören. Juri de Marco erzählt vor deren improvisierendem Spiel noch vom Beginn der Improvisation am zweiten Abend, nach Prof. Glaubrechts Vortrag vom Ende der Artenvielfalt, dass deren persönliche  Verzweiflung in deren Musik sich atonal spiegelte und er am Piano dermaßen vehement in die Tasten haute, dass der Flügel neu gestimmt werden musste. Sie haben ein Thema 10 bis 12 Mal wiederholt und variiert und mit diesen ständigen Perspektivwechseln in den Darstellungen des Themas für eine politisch-gesellschaftliche Veränderung plädiert.

Bring the glasses and fill the Châteauneuf-du-Pape

Diesmal beginnt das Piano mit Fingerübungen für die linke Hand. Das zunächst leise anhebende Horn steigert sich urplötzlich in Schreie in die Stille hinein.  Das erschreckt für einen Moment, doch als es dann in e-Moll weitergeht, ist es, als sähen und hörten wir the Butterflies over the Grand Canyon. How easily is all this going, on and on, as if there were no night and day, but just an afternoon, this one. Am Dienstag, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, stand Juri de Marco noch auf dem Klavierstuhl, während Christoph Reuter, der Hornist sich auf den Boden legte und Luft in die Luft geblasen hat, wobei gerade noch ein paar Töne herauskamen. Die leisen Töne einzeln, wie in einem Tanzfieber. So breathtakingly beautiful. Festlich, I wished this afternoon would never end. Never, ever. Wenn Antonín Dvořák von New Mexico ins nächste Land hinüber geht. Und in der Sonne des Nachmittags zurückkommt. Hello Mr Tambourine Man. Shake the spirit in the sky. Come over to the window, my little darling. Wer hätte am Montag zu Beginn des Festivals der Tage der Utopie schon gedacht, dass diese Musik jeden Tag und Abend noch schöner werden könnte, jeden Tag. It is soon going to be over. So, bring the glasses and fill the Châteauneuf-du-Pape. Who can stay forever?

Sustainable development goals

Danach steigt Nora Wilhelm voll in ihre thematische Reise ein, erzählt von der Einbettung des Systemwandels in ihr Leben und ihre Erfahrungen, von neuen Wegen und Ideen, vom Hoffnung-Machen. Von sustainable development goals. Wie wir dazu beitragen, gerade auch jetzt in der Pandemie, die sozialen Ungleichheiten noch zu steigern. Die CO2 Emissionen sind letztes Jahr sogar noch gestiegen. Wir sind per capita mitverantwortlich dafür, wo wir uns befinden, sagt sie, schnurztrocken. The idyllic Switzerland und das idyllisch ignorante Österreich, wo wir ein ähnliches Bild vorfinden.  Ich kann mitgestalten ist ihr Slogan, mit der Folgefrage, was kann ich beitragen. In der Klimabewegung zum Beispiel: System change not climate change. Doch was bedeutet das konkret?

Um welche Herausforderungen geht es?

Wie kann es sein, dass wir trotz allem nicht die Wirkung erreichen, die wir uns wünschen? How come? Die Ungleichheit steigt weiter an, abseits aller Erfahrungen und Theorien. Nora Wilhelm nimmt 13 Herausforderungen auf: Wir sind zu sehr investiert in den Status quo und von diesem geprägt. Wir denken immer noch im Rahmen der Prägungen, die wir – die weißen Mensch in Europa und den USA. In der Reflexion über die Systemtheorie und –praxis gilt immer noch, „only a wet baby cries for a change …“ Wir sind zynisch, gelähmt oder irrelevante Idealist*innen und haben Mühe, uns mit der Realität zu verbinden. Sie plädiert für ein Konzept der kreativen Spannung. Wo ich stehe, wo meine Realität ist, da habe ich Träume, da kann etwas passieren, wie Peter Senge sagt, leitender Dozent am MIT,  Massachusetts Institute of Technology, eine Technische Hochschule und Universität in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts.

Von Ego zu Öko

Wir sind fragmentiert und arbeiten nicht zusammen. Anstatt uns besser zu vernetzen, leben wir weiterhin mit dem Grundmuster der Konkurrenz, das uns seit Anfang an eingetrichtert ist. Von Ego zu Öko. Collaboratio helvetica ist der Katalysator für systemischen Wandel in der Schweiz, eine  Kollaborationsplattform & Netzwerk Community. Wir müssen die Ursachen angehen und die Symptombekämpfung überwinden, wie Karen Spencer ausführt. The Iceberg of the current reality adressiert die Ursachen nicht ausreichend genug. Die Verantwortung wird in der Regel auf die Verbraucher*innen abgewälzt, was Plastik betrifft, während Unternehmen den Wegwerfkonsum aktiv normalisieren. Wir haben bis dato nahezu kein Verständnis für Systeme. Programme für Systemwandel sind in Österreich viel zu selten. Donella Meadows, eine US-amerikanische Umweltwissenschaftlerin und Autorin die vor allem durch die Studie „Die Grenzen des Wachstums“, bekannt wurde, die sie mit ihrem Ehemann Dennis Meadows und anderen Forschern verfasste, 1972, sagte, wesentlich wäre, die Komplexität zu erfassen, alle Teile in den Blick zu nehmen und überlegen, wie sie zusammenspielen. Systemwandel verlangt, Grundlagen und Paradigmen zu ändern, ebenso wie das Spiel für alle.

Was macht ein wirklich gutes Leben aus?

Wir denken nicht holistisch und bauen die Pyramide immer weiter. Doch es braucht Zeit, Expertise zu entwickeln. Wir versuchen unsere Probleme mit der gleichen Denkweise zu lösen, mit der wir sie kreiert haben. Gleichzeitig haben wir wenig positive Visionen für die Zukunft und alternative Narrative. Rob Hopkins ist ein britischer Dozent und Umweltaktivist, der vor allem als Begründer der Transition-Towns-Bewegung bekannt wurde. Hopkins ist Autor von Grundlagenwerken zu Transition Towns und forscht am Post Carbon Institute. Er sagt u.a. wir müssen in der Lage sein, uns die Zukunft vorzustellen, das Knappheitsdenken hinter uns zu lassen, es gehe nicht darum, was wir verlieren, sondern sollten uns auf das konzentrieren, was wir alle zu gewinnen haben, auf das, was ein gutes Leben wirklich ausmacht. Neue Strategien des Wandels sind wenig bekannt.  Die Frage, was soziale Innovation sei, bleibe vorerst eine akademische Definition. Sich mit Strategien zur Systemveränderung befassen, meint Tom Lawrence, Prof. für Strategic Management an der University of Oxford, sei vorrangig wichtig, die Entscheidungsträger sollen in Social Innovation Labs eingebunden werden, alles Stakeholders müssen verbunden werden.

Und jetzt?

Systemisch die Grundlagen des Systems und die Grundursachen verstehen, nach den Zusammenhängen fragen. Die Vergangenheit loslassen – auch in uns – und experimentell die Zukunft durch Experimentieren und Wiederholungen vorwegnehmen. Soziales Kapital nur neue Beziehungen schaffen, menschliches Kapital durch Lernen und Aneignen von Fähigkeiten und Kapazitäten fördern, intellektuelles Kapital ausbauen ebenso wie physisches Kapital durch neue Produkte und Räume. Systemwandelarbeit ist schwierig und herausfordernd. Das Klären der Vorbedingungen mache nach ihren Erfahrungen ca 99 Prozent der Arbeit aus. Vielmehr halten wir unbewusst Fehler aufrecht, der Eisberg sieht die ökologische Dimension getrennt von der Natur, ähnlich ist es mit der sozialen Trennung und der mentalen. Wir haben wenig Praxis und Unterstützung für die individuelle und kollektive innere Arbeit. System Leadership verlangt die Fähigkeit, größere Systeme zu sehen und Reflexion zu fördern. Und sollten versuchen, die bekannte Ego Falle – die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen und nicht wiederholt in alte Muster fallen.

Was nun?  Bewusstsein entwickeln; in der kreativen Spannung bleiben;  Zusammenarbeit fördern und Synergien nutzen; Bewusstsein für die Handlungsebene fördern, mehr Energie auf Ursachen fokussieren; Systemverständnis und –fähigkeiten aufbauen;  Üben holistisch zu denken;  bewusst alte Denkmuster loslassen und durch andere ersetzen; Fähigkeiten aufbauen und weitergeben; am Systemwandel arbeiten; Selbstreflexion in der Arbeit ins Zentrum rücken; dran bleiben und das Beste geben! Soziale Innovation, Neugierde, Mitgefühl und Mut.

It is the evening of the week

Musik afterwards. The piano … so easy. How come. The Festival Days of Utopia are fading. The day continues into the night. Es war eine lohnende Reise. Nora Wilhelm repräsentiert eine Stimme der Zukunft. Die Musiker in der freien Interpretation variieren Textstellen von Nora Wilhelm. Stimmlich erweitert zur Textinterpretation. One more time. Die zuhörenden im Saal, die Gäste nah und vermutlich auch fern, stimmen mit ein, intonieren nach den schwebenden Handbewegungen des Hornisten: Neugierde, Mitgefühl und Mut. Rhythmisches crescendo … Nach alledem, was kann man da noch sagen?

Vielleicht: Die Tage der Utopie sind besser als eine UNO Generalversammlung. Das soziale Gedächtnis dieser Tage ist den Namenlosen der Geschichte gewidmet. Die Musik, vor allem die Musik, hat in diesen Tagen neben dem Fokus auf die Sprache, das Zuhören und den Dialog, viel Sinnlichkeit entfaltet, wie in paradiesischen Gärten, wo die Akteur*innen der Sinnlichkeit, den Musikanten und Poeten lauschen und uns einen Vorgeschmack paradiesisch orientaler Himmelsfreuden bieten. Nicht Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei dieser Kunst ausbrütet. Es ist die konjunktivische Perspektive; was wäre wenn? Es ist unsere Freiheit des Denkens, die Freiheit der Empathie, der Reflexion und des Austauschs.

Über den Tagen der Utopie liegt eine besondere Magie.