Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Ingrid Bertel · 20. Mai 2012 · Theater

Verrücktes Blut - Das Theater Kosmos lässt Schiller schillern

Der Mensch, meinte Friedrich Schiller, ist "nur da ganz Mensch, wo er spielt". Den Beweis dafür liefert das Erfolgsstück des Jahres 2011: "Verrücktes Blut" von Nurkan Erpulat und Jens Hillje. Diese ausgesprochen vitale Auseinandersetzung mit den frühen Schiller-Dramen ist jetzt im Bregenzer Theater Kosmos zu sehen. Und sie ist so jung, leidenschaftlich, witzig, brutal, poetisch, tabulos und groovy, dass sie am gestrigen Premierenabend niemanden kalt ließ.

Schon komisch! Normalerweise stehen sie ja mit erhobenem Zeigefinger auf der Matte, wenn von Integration und Bildung die Rede ist - all die Landesräte, Bürgermeister, Bildungssprecher und Integrationsbeauftragten. Ausgerechnet diesmal - bei einem der meist diskutierten Stücke der letzten Jahre - glänzten sie durch Abwesenheit. Weil sich nur die andern bilden sollen? Weil sie den Kontakt zur Wirklichkeit eh nicht brauchen?

Jubel wie bei einem Popkonzert empfängt die Schauspieler. Nein, das ist kein Theater-Applaus, das ist etwas Persönlicheres. Der Abend pulsiert in den BesucherInnen. Als erster findet Kosmos-Direktor Hubert Dragaschnig zu einem trockenen Witz. "Was ist ein U-Bahn-Dieb?" Den Witz erzählten sich die Schauspieler während der Proben. "Ein Metro-Pole". So ist das! Wenn eine Migrantengruppe die Integration geschafft hat, fällt sie mit geballten Vorurteilen über die nächste her.

Was geht ab, ey?

Was hat das mit Friedrich Schiller zu tun? Ziemlich viel, wie die Lehrerin Sonia Kelich (Anja Pölzl) beweist. Sie verbringt mit ihrer Klasse - in der die meisten einen sogenannten "Migrationshintergrund" haben - einen Projekttag. "Die Räuber" stehen auf dem Programm und "Kabale und Liebe". Von Interesse bei den Schülern zu reden, wäre krass übertrieben. Ausnahmslos sind sie damit beschäftigt, einender zu dissen. "Du Opfer!", "Du Spast!" sind noch die freundlichsten Ausdrücke, die sie füneinander haben. Hakim (Ümit Aydemir) wird sowieso als "schwule Sau" ausgegrenzt, und Musa (Anwar Kashlan) plustert sich zum Gangsta auf. Die andern verstecken sich hinter ihren Sonnenbrillen, finden zusammen in den Gesten der Ausgrenzung, in Tanzschritten, in Fußball-Legenden. Vom legendären Kopfstoß Zinedine Zidanes wird die Lehrerin sprechen, aber erst, wenn sie Kontakt gefunden hat zu ihren bildungsresistenten Schülern.

Und den Kontakt schafft eine Knarre, die aus Musas Tasche fällt. Die Lehrerin reißt sie an sich. Endlich kann sie die Schüler in Schach halten, ihnen die Werte von Demokratie und Aufklärung, Menschenwürde und Schönheit einhämmern. Die Pistole ist genauso paradox wie die moralische Keule, nur wirksamer. Im Spiel mit der Gewalt passiert etwas Wunderbares - ein Ausbruch aus den Regeln, eine Poesie der Grenzüberschreitung, das frühlings-schöne Erkunden möglicher Lebenswelten. So muss es Schiller vorgeschwebt sein, als er - ein wütender Schüler - "Die Räuber" schrieb, diese wüste Auseinandersetzung mit familiärer Gewalt.

Machos, Hinterhofmoscheegänger, Schwesternhasser, Ehrenmörder

Anja Pölzl, wunderbar facettenreich, lässt als Lehrerin keines der bösen Klischees aus. Allem müssen sich diese Jugendlichen stellen: der Kopftuchdebatte, der erniedrigenden Sprachdressur, sogar der Frage, ob Mohammed ein Kinderschänder war. Die Gruppe reagiert verwirrt, verstört, rebellisch, erstaunt - und es ist wunderbar, dieses Ensemble aus Schauspielprofis und Amateuren zu erleben, denn an Präsenz steht keine und keiner dem andern nach. Dass eine Regieleistung (Stephan Kasimir) so verhalten, so bescheiden daherkommt - auch das ist selten und kostbar. So wie das hintergründig witzige Bühnenbild von Peter Büchele, das dem Publikum einen Spiegel vorhält. So wie das fein ironische Lichtdesign von Markus Holdermann, das den vitalen Bestemm der Jugendlichen profiliert.

"In Anbetracht der Situation sind wir ziemlich weitergekommen", meint die Lehrerin am Schluss. Stimmt. Es gab den Kopfstoß von Zinedine Zidane - als Input. Und es gibt eine Fußballer-Weisheit als Finale. "Verzeihen ist die edelste Form der Rache." Das war nicht Schiller, das war Eric (oh ah) Cantona!