Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Anita Grüneis · 13. Mai 2016 · Theater

Uraufführung auf dem Säntis - Wenn der Berg zum Reptil wird

Ein Berg, zwei Frauen und später ein Mann – das sind die Figuren des Theaterstücks „Und wenn sie gingen“ von Rebecca Schnyder, das auf dem Gipfel des Säntis in 2'500 Metern Höhe uraufgeführt wurde.

Bei der Uraufführung schneite es und an den Fenstern des Gipfelrestaurants bildeten sich große Eiskristall-Landschaften. Innen zeigte die Bühnen-Landschaft von Steven Koop eine abstrahierte Felsumgebung mit zwei Brettern, einer hohen Schaukel und vielen dunklen Zacken. Und während sich der Chor „Bismärkli-Schuppel“ von der Empore herab zu einem magischen Zäuerli einstimmte, wartete Noldi Alder bereits neben der Bühne mit seinem Hackbrett. Alder komponierte eine Musik, die sich als Grundstimmung durch das ganze Stück zog und immer wieder Höhepunkte setzte.

Reptil auf dem Berg


Die Appenzeller Stimmen schwingen noch im Raum, da steht auf dem Gipfel des Felsens eine Figur, gehüllt in eine Art Reptilienmantel (Kostüme: Annie Lenk), die sie mit dem Felsen verschmelzen lässt. Aus dem Fuß dieses Berges – oder ist es das Kleid der Reptilienfrau? – kriecht eine Figur heraus mit kurzen Hosen und derben Bergschuhen, die Knie blutig, das Haar zerzaust und auf dem Kopf ein junges Geweih. Hat der Berg sie geboren oder ausgespuckt? Stumm stehen die beiden Figuren da und blicken in die Ferne. „Wir fangen neu an. Wie jeden Tag“, sagt Elis, der Berg.

Zwei Frauen, ein Mann


Regisseurin Claudia Brier setzt eine starke Ausgangslage für dieses neue Stück der Ostschweizerin Rebecca Schnyder, die übrigens der Uraufführung hochschwanger beiwohnte. In einem Interview erwähnt Schnyder, dass sie beim Schreiben lange Zeit nur mit den beiden Frauen gearbeitet habe. Doch für die Bühne hätte es eine dritte Figur benötigt, eine Art Spiegel von außen. So kam Anton in die Bergwelt, Anton aus der Stadt, der in den Bergen nach der Hütte seines Großvaters sucht und dabei auf die beiden Frauen trifft.

Die Stadt als Hassobjekt


Ansatzweise erfährt man durch Erzählungen, mit denen Elis ihre Ziehtochter Klara immer wieder einlullt, dass beide in dieser Umgebung zurückgelassen wurden, dass der Vater getrunken hat und in die Stadt gegangen ist. Zwei Frauen am Rande der Welt. Warum gehen die beiden nicht weg? Warum hasst Elis die Stadt? Weil sie Angst vor der Ausgrenzung hat, die sie offenbar als Kind erfuhr? Die zwei Frauen warten auf Godot und haben Tschechows Sehnsucht im Gepäck.

Der Mann, das plumpe Wesen


Doch dann platzt André Rohde wie ein Deus ex machina in die Welt der Frauen. Alles was davor Mythos, Parabel oder Zwischenwelt war, wird mit ihm real. Er gibt den obercoolen städtischen Checker, der sich in der Natur eine Auszeit nimmt. Als er aus seinem Rucksack eine Banane herausholt, stürzt sich Klara darauf wie ein halb verhungerter Affe. Sie sammelt sogar die Schalen ein und versteckt sie in ihrer Höhle. Anton wird zum Objekt ihrer Begierde. Sie schwärmt für ihn wie ein Teenie für einen Popstar. Er soll ihr aus der Stadt erzählen, wo sie hin will. Er soll ihr mehr Lebensmittel bringen. Er soll mit ihr tanzen, was er auch tut. Er tanzt aber auch mit Elis und bringt sie dazu, ihren Reptilienmantel auszuziehen und ganz kurz zur Frau zu werden, bis sie dann wieder zum Fels erstarrt. Zum Schluss bleibt Elis auf dem Berg, aus dem sie nicht entrinnen kann. Oder ist sie der Berg? „Wenn du gehst, bleibt nichts“, sagt sie zu Klara, als diese in die Stadt aufbricht. Elis zieht sich den Kapuzenmantel über das Gesicht und wird völlig eins mit der Umgebung.

Wenig Dichte


Friedericke Pöschel gibt ihrer Elis eine unergründliche Tiefe, aber auch eine leise verkümmerte Sehnsucht, die beim Tanz aufblüht wie eine Primel, die endlich Wasser bekommt. Die Klara ist bei Lotti Happle ein ungestümer Wildfang, der neugierig auf alles ist. Damit ist sie ein gutes Gegenstück zum Anton von André Rohde, der sich als oberflächlicher Schau-ins-Land entpuppt. Die Darstellung der Enge zu Beginn der Aufführung, die so dicht war wie der Nebel außerhalb, zerbröselte mit seinem häufigen Auftreten wie die Reiswaffel in Klaras Hand. Dem Stück fehlte dadurch die Kargheit, der Hunger und die Magie, in die sich beide Frauen mit Erzählungen einhüllen. Es blieb unergründlich, warum Anton wirklich im Berg leibhaftig erscheint und nicht nur Projektionsfläche für Ängste und Begierden der Frauen blieb.