Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Peter Niedermair · 11. Mai 2017 · Theater

„RADIKAL ! THEATER !“ - Inszeniert von walktanztheater.com in Kooperation mit BludenzKultur

„Radikal“ ist ein in Bludenz erarbeitetes Theaterprojekt mit Jugendlichen über Zugehörigkeiten und Zukunftsszenarien, über persönliche Wurzeln und Entwurzelungen, über Risse in der Gesellschaft und über aktuelle politische Fragen, die unter die Haut gehen. Gleichzeitig inszeniert und transformiert das Stück mit seinen fiktionalisierten Szenenfolgen, die knallhart an der sozialen und politischen Realität laufen und eigentlich durch die Bank ein bedrückendes Geschehen in direkter Konfrontation mit dem Publikum einfangen, das in einem fort provoziert und Theater im besten Sinn in einen Platz für Utopien und aufklärerische Reflexion überführt. Wäre die Raumtemperatur nicht so erfrischend kühl, man muss sich wirklich warm anziehen, es würde einem sonst noch heißer werden. Brigitte Walk und ihr mehrfach erprobtes Team zeigen in diesem Theater-fürs-Leben-Diskurs, was alles man aus jungen Leuten herausholen kann. Chapeau!

Die Akteurinnen und Akteure

Zwei Schulen in Bludenz, Lehrlinge und junge Flüchtlinge arbeiteten und forschten seit Oktober 2016 an brennenden sozialen, politischen und kulturellen Fragestellungen und entwickelten mit Profis ein Theaterstück. Gestern Abend (10. Mai) war Premiere in der KOJE, Klarenbrunn 46 in Bludenz. Choreographie Anne Thaeter, Text Marcel P. Hintner, Schreibwerkstatt Brigitte Hermann, Ausstattung Petra Künzler Staudinger, Videos Stefanie Momo Beck, Produktionsleitung Nicole Wehinger. Auf der Bühne der ausrangierten Textilfabrik waren in temporeicher Aktion zu sehen und spürbar zu erleben: Giulia Gaudio, Pia Gökler, Jaqueline Feurle, Philomena Juen, Carolin Mathies, Michelle Vonblon, René Sahin, Laura Hanser, Hamza Ahmadi, Delia Sandholzer, Magdalena Bahl.

Themen und Dramaturgie                                                                                                                  

Das Stück „Radikal“ ist dramaturgisch nicht linear, sondern vernetzt und verzweigt Szenen aus einem Familienleben, ein von Hass und Unverstand getriebenes Beziehungsgeflecht zwischen Eltern und Kindern, die Tragikbeziehung eines morgendlich marmeladigen Ehefrühstücks an einem überlangen Küchentisch, die unverschämt provokanten Anpöbelungen und das Anrempeln einer Frau samt Kindern in der Warteschlange beim Einkaufen, die lebensbedrohliche Diffamierung und körperliche Gewaltanwendung einer Jugendlichen Gruppe an einem jungen Mädchen, eine abscheulich-satirisch-ironische Pseudooptionen Diskussion, ob man sich zwecks Installieren strengerer Erziehungsstile eher dem Dschihad oder einer rechtextremen Gruppe anschließen solle. Beinahe durchgängig hört man alle diese sprachlichen Artikulationen in vollster Lautstärke, die die mitunter kaum mehr erträglichen Stimmen in der Fabrikshalle ob ihrer hallenden Akustik sich fast überschlagen lassen. Nur manche Passagen sind stimmlich moderat modelliert, nicht zum Harmonisieren oder um eine ausgewogene Balance herzustellen. Die Theatergruppe verlangt „Veränderung“.

Themen- und Motivlagen

Was treibt junge Menschen an, sich einer radikalen Gruppe anzuschließen? Ist es das Aufbegehren gegen die Erwachsenengeneration, ist es pure Abenteuerlust oder die Suche nach einer funktionierenden Gemeinschaft? Sind es religiöse oder politische Motive? Oder die individuelle Sehnsucht, seinem Leben eine Bedeutung zu geben? Der Autor Marcel Pierre Hintner ist 22 Jahre alt und Student der Politikwissenschaft in Wien. Er wurde in Bregenz geboren, ist in Lauterach aufgewachsen und nimmt seit vielen Jahren an den Workshops von Literatur Vorarlberg teil. Neben Lesungen und kleineren Veröffentlichungen hat er ein Hörspiel für den ORF und ein Kurzdrama für das Theater Kosmos geschrieben. Als nicht „Bio“-Vorarlberger spricht er Türkisch mit Vorarlberger Akzent, was auch in seinen Texten Spuren hinterlässt. Er erwähnt gegenüber KULTUR, dass – was die inhaltliche Konzeption betreffe, viel über Radikalisierung, Deradikalisierung, Extremismus und Gewaltszenarien viel geschrieben, diskutiert, medial berichtet werde und dennoch sei die Ratlosigkeit groß, was diese Phänomene auslöse und wie damit umzugehen sei. Langsam jedoch setze sich eine bestimmte Erkenntnis durch, dass nämlich eine Mischung von Motiven aus persönlicher Erfahrung und gut funktionierender Medienpräsenz radikaler Gruppen den Erfolg von Radikalisierungstendenzen in der Gesellschaft ausmacht. Was früher vielleicht ein Randphänomen war, rückt heute in das gesellschaftliche Zentrum. Sich radikal zu verhalten ist möglich in sozialen Netzwerken, in der eigenen Umgebung und wird als neue Normalität wahrgenommen. Es überlagern sich dann oft Inhalt dessen, was vertreten wird und eine populistische, an Extremen orientierte Form.

„Wer schreit, hat recht“                                                                                                                      

ergänzt Brigitte Walk. Zumeist werde die Radikalität ‚anderer’ gesehen und beschrieben, selten werde über das eigene radikalisierte Verhalten nachgedacht oder diskutiert. In ihrer theaterpädagogischen Arbeit orientiert sich die Theaterregisseurin auf der inhaltlichen Ebene u.a. an Fragen, wie viel Aufregung heutzutage notwendig sei, um in den sozialen Medien wirklich Gehör zu bekommen, wie viel Skandalisierung beim allerkleinsten Ereignis in der Gemeinde, am Arbeitsplatz, in der Schule einsetze. In diesem Spannungsbogen von persönlicher Betroffenheit, gesellschaftlichem Klima und politischen Verhältnissen setzt das Theaterprojekt RADIKAL an. Bis zur Aufführung setzen sich die Theaterprofis intensiv mit Jugendlichen auseinander, da wurde über historische Dimensionen von Radikalität gearbeitet, um die Dimension des Phänomens zu begreifen, da wurde viel im persönlichen Bereich nachgeschaut und nachgeforscht, in den Familiengeschichten, an den sozialen Orten, an denen Jugendliche leben. Um die sprachliche und persönliche Klärung des begrifflichen Inventars zu erfassen, wurde ebenso über radikale Alltagsphänomene von veganem Essen bis zu Verweigerungshaltungen in Schule, Betrieb, Familie oder im Freundeskreis geforscht und diskutiert.

Künstlerische Umsetzung                                                                                                              

Nach der Durchführung von zahlreichen Projekten mit Jugendlichen in den letzten Jahren mit der Methode von ‚Forschen und entwickeln, künstlerisch umsetzen und aufführen’ haben wir als Freies Theater sehr viel Erfahrung mit der Arbeit an unterschiedlichen Schulen, mit Lehrlingen und jugendlichen Flüchtlingen gemacht. In einem länger dauernden Prozess wird parallel an künstlerischen Techniken gearbeitet, an künstlerischen Sichtweisen und Fragestellungen und am Thema selbst. Zudem wächst die Gruppe zusammen und es entsteht Vertrautheit.

Die Erfahrung, so Walk weiter, zeige, dass das Ineinandergreifen aller dieser Prozesse zum einen tiefe inhaltliche Einblicke ermögliche und diese auch zu verarbeiten seien, weil sie zu einer theatralen Form verwandelt werden. Zum anderen sei die künstlerische Beschäftigung mit einem Thema und das Metaphorisieren von Erfahrungen, Erzählungen, Geschichten eine befreiende Erfahrung von Öffentlichkeit und Akzeptanz. Im besten Fall werde auch etwas gelernt, sei es ästhetisch oder thematisch.

In Bludenz geht was weiter!              
                                       
Und neben dem Anliegen, ein Thema zu erforschen und theatral umzusetzen sind diese Projekte sehr wichtige Kulturvermittlerinnen für den praktischen Zugang zu zeitgemäßer Kunst. Die Schreibwerkstatt nimmt entstandene Ideen aus den Theaterwerkstätten wie lose Fäden und macht Textangebote daraus. Umgekehrt kommen aus der Schreibwerkstatt aus dem Prozess des Befragens, Erforschens, Erfindens und Erzählens ebenfalls Textstücke, die die Theatergruppe auf ihre inhaltliche und performative Qualität untersucht. Die Werkstätten fanden kontinuierlich jede Woche einmal statt, die Schule, der Betrieb und die Jugendlichen müssen dazu Schulzeit und Freizeit zur Verfügung stellen. In der dramaturgischen Inszenierung tauchen alle diese Szenenfolgen hektisch gespielt auf, sind durch die schauspielenden jungen DarstellerInnen mit einem irrsinnig Tempo vorangetrieben, die jungen Leute sind laut und ständig in Bewegung. Für manche ZuschauerInnen mag das am Tempolimit sein, mich hat das fasziniert. Und das alles hat Sinn, weil die einzelnen Handlungssplitter und Blitzlichter, die in Summe zu einem kunstvollen und reichhaltigen Programm führen, das die BesucherInnen der Premiere voll und ganz überzeugz und mit viel Beifall würdigen. Dieser Inszenierung wünscht man für jede Aufführung ein volles Haus. In Bludenz geht was weiter, schauma mal!

 

Weitere Aufführungen: 11. 12. 13. 14. Mai, jeweils 19:30 Uhr
KOJE, Klarenbrunn 46, Bludenz
Karten: Raiffeisenbanken und Sparkasse / Laendleticket.com und an der Abendkasse