Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Fritz Jurmann · 05. Okt 2012 · Theater

Japanische Fesselkunst im russischen Märchen: In der „Geschichte vom Soldaten“ am Landestheater wird mehr getanzt als marschiert

Dieses war der zweite Streich, und er ist so märchenhaft gelungen wie der erste. Es geht in dieser neuerlichen Kooperation zwischen dem Vorarlberger Landestheater und dem Landeskonservatorium Feldkirch aber nicht um das tapfere Schneiderlein, sondern um ein Märchen aus dem alten Russland, „Die Geschichte vom Soldaten“ mit der Musik von Igor Strawinsky in einer frechen, spektakulär vertanzten Neudeutung. Die Produktion wurde am Donnerstag am Kornmarkt vom Premierenpublikum mit geradezu demonstrativer Begeisterung gefeiert.

Auf das Notwendigste reduziert

Aus der Not eine Tugend machen wollte der seit 1910 in der Schweiz lebende russische Komponist, indem er in der damaligen wirtschaftlichen Notlage durch radikale Reduktion eines Werkes auf das absolut Notwendigste die weitere Aufführung von Opern ermöglichen wollte: „Warum nicht etwas ganz Einfaches machen, das kein großes Publikum und ungeheures Theater braucht?“ Als Stoff schien ihm „L’histoire du soldat“ aus Afanassiews Sammlung von Märchen seiner russischen Heimat gerade Recht, den sein Schweizer Freund, der Welschschweizer Prosadichter Charles Ferdinand Ramuz, in ein ansprechendes Libretto kleidete.

Das Ganze ist eine recht einfach gestrickte Parabel um die Verführbarkeit des Menschen und die Gier nach materiellem Reichtum. Der brave Soldat geht einen Handel mit dem Teufel ein und verkauft ihm seine Geige gegen ein Buch, in dem die Zukunft steht und mit dessen Hilfe er reich wird. Als er jedoch den Klang des Instruments vermisst und seine Geige mit List bei einem Kartenspiel zurückgewinnt, kann er mit deren Hilfe eine Prinzessin wieder gesund machen. Der Preis dafür ist, dass er seine Heimat und seine Familie nicht mehr sehen darf. Quintessenz ist die ernüchternde Erkenntnis, dass Geld allein nicht glücklich macht.

Eines der originellsten Stücke des modernen Musiktheaters

Wie in einem Wandertheater auf einem Jahrmarkt wird diese Handlung von einem Vorleser erzählt, dazu kommen drei Protagonisten auf der Bühne und eine Handvoll Musiker. Aus dieser Idee entstand 1918 zwar keine Oper, denn es wird darin kein einziger Ton gesungen, immerhin aber eine damals völlig neue und bahnbrechende Art des modernen Musiktheaters, die inzwischen viele Nachahmer gefunden hat. Die „Geschichte vom Soldaten“ gehört bis heute zu den originellsten Stücken dieses Genres, nicht nur seiner Form wegen, sondern vor allem durch die ungewöhnliche Musik, die Strawinsky dazu ersonnen hat.

Sie ist eine scharfkantige Absage an das romantische Musikdrama und besteht aus Kurzformen, die von Märschen, Tänzen oder Chorälen abgeleitet sind. Doch sind sie unter dem Einfluss des damals neuen Jazz allesamt gegen den Strich gebürstet, in unregelmäßigen Metren und rhythmischen Pikanterien. Strawinsky hält zwar an tonalen Bindungen fest, gewinnt ihnen jedoch durch Bitonalität, scharfe Rhythmik und sachlich-motorische Melodik in einer bloß siebenköpfigen kammermusikalischen Besetzung einen ganz neuen, herben Klangcharakter ab.

Das Werk stand in Vorarlberg am Beginn einer Ära

Das Werk besitzt für Vorarlberg eine besondere lokalgeschichtlich kulturelle Bedeutung, stand es doch 1988 in einer Aufführung am damaligen „Theater für Vorarlberg“ am Beginn der bis heute erfolgreich andauernden Zusammenarbeit zwischen dieser Institution und dem „Vorarlberger Kammerorchester“ als Vorläufer des späteren Symphonieorchesters Vorarlberg. Erzähler war Kurt Sternik, der auch Regie führte, am Pult stand Christoph Eberle. Eine weitere Produktion dieses Stücks bot das Feldkirch Festival 2010, eingebettet in einen Konzertabend und in einer reichlich mit unnötiger Symbolhaftigkeit und abstrusen Interpretationsideen überfrachteten Regie von Intendant Philippe Arlaud.

Das Landestheater macht nun mit einem genialen Kunstgriff das genaue Gegenteil, indem es eine choreografierte, damit noch weiter gestraffte Version anbietet. Die drei im Original vorgesehenen Bühnenfiguren werden auf ein Tanzpaar reduziert, das zugleich auch die Regie übernimmt. Mit den beiden erstmals hier agierenden, international namhaften Künstlern, der Japanerin Dasniya Sommer und dem Berliner Jo Siska, hat man einen Glücksgriff getan. Mit unglaublicher Fantasie und oftmals kontrapunktischen Einfällen stellen sie helmbewehrt diese Geschichte in eine von Seilen und Schnüren bestimmte Welt zwischen Varieté und klassischem Ballett, illustrieren das Geschehen mit betonter Körperlichkeit und Pantomime in wunderbar ästhetischen Bildern, bis hin zum atemberaubenden Finale, in dem die beiden kopfüber an Seilen hängend über den Köpfen der Prominenz in der ersten Reihe baumeln.

Seiltricks mit psychologischen Deutungsmöglichkeiten

Diese Idee mit den vielfach verknüpften Seilen lässt sich, über jeden Klamauk erhaben, natürlich auch psychologisch deuten – marionettenhaftes Angebundensein, Verbindungslinien des Schicksals, existenzielle Ängste des Gefangenseins im inneren Ich. Eine Recherche bei Google ergibt eine weitere Variante. Dass nämlich ein Charakteristikum von Dasniya Sommers Tanzkunst die Verknüpfung von modernem Tanz mit SM-Praktiken ist. Das nennt sich dann „Shibari“, eine auf ästhetische Wirkung und Wirksamkeit ausgerichtete japanische Fesselkunst. In ihrer Glanznummer agiert die Dame dann nur mit einer Perücke bekleidet. In Bregenz dagegen bleibt sie hochgeschlossen, in einer Art grauem Pyjama in einer ansonsten von Knallgelb und Tiefschwarz dominierten, offenen Bühne mit Dutzenden schwarzer Militärstiefel als weiteren Requisiten (Paul Lerchbaumer, Andrea Hölzl).

In dieser Konstellation wird nun der komplette Text der Verantwortung des Sprechers übertragen. Dirk Diekmann löst diese textintensive Aufgabe mit aller denkbaren schauspielerischen Bravour und einem reichen Repertoire an Gestaltungsvarianten, schlüpft behände auch in die Rollen des Teufels und des Soldaten, trägt damit spielend und voll Spannung diese 75 pausenlosen Minuten. Damit löst Intendant Alexander Kubelka auch ein, was er in der aktuellen Ausgabe der KULTUR im Gespräch mit Silvia Thurner versprochen hat: „Von herkömmlichen Interpretationen wird dieses Projekt weit entfernt sein.“

Konse-Professoren tragen den Abend musikalisch brillant

Im Gegensatz zur ersten Kooperation der beiden Häuser mit der Barockoper „Dido und Aeneas“, als vor allem Studenten des Konservatoriums im Mittelpunkt standen, sind es diesmal Professoren des Hauses, die im Ensemble das musikalische Rückgrat der Aufführung bilden. Die nur scheinbar harmlose Partitur wird von ihnen mit größter Intensität und Spannung brillant zum Leben gebracht: Konzertmeisterin Karin-Regina Florey, die mit ebenso viel Virtuosität wie Feingefühl ihren teuflischen Violinpart beherrscht, Francisco Obieta, Kontrabass, Georg Vinciguerra, Klarinette, Allen Smith, Fagott, Herbert Walser-Breuss, Trompete, Jan Ströhle, Posaune, und Wolfgang Lindner, Schlagzeug. Strawinskys karge Vorlage ist in Wirklichkeit so komplex, dass es trotz der minimalen Besetzung eines Dirigenten bedarf. Hier beweist Benjamin Lack, den man im Frühjahr noch als absolut kompetenten Leiter einer Barockoper erlebt hat, seine musikalische Vielseitigkeit erneut, indem er hier nicht nur für Präzision sorgt, sondern auch für die notwendige klangliche Schärfung, Straffung und kantig ausgekostete Reibungen.

Die Einstimmung der Gäste auf den „Soldaten“ bei ihrem Eintreffen durch ein Bläserquintett der Militärmusik zeigt, wie sorgfältig und liebevoll man neuerdings am Kornmarkt mit Musiktheater umgeht. Es gibt zwar nur mehr wenig geeignete Literatur, dennoch besteht allseits der dringende Wunsch nach einer Fortführung dieser erfolgreichen Kooperation zwischen Landestheater und Konservatorium.

 

Weitere Aufführungen im Theater am Kornmarkt, Bregenz, jeweils 19.30 Uhr: 18. und 25. Oktober, 13. und 24. November 2012, 12. und 22. Mai 2013