Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Peter Niedermair · 09. Okt 2017 · Theater

Eine leichte Gehirnerschütterung. Eine Art psychohistorische Kreisky-Parallelverschiebung - „Die Ermordung Bruno Kreiskys“ von Wolfgang Mörth am Theater Kosmos

Am Ende geht man nicht, wie sonst oft nach Theater Kosmos Stücken, mit vielen Fragen hinaus, weil das neue zweistündige Wolfgang Mörth Stück eine Komödie bis zum Schluss bleibt und die Fragen dort auch zu einem Ende gebracht werden, was Melanie, die 25-jährige Protagonistin dezidiert ansagt. „Ich mach das hier fertig. Durch mich ist die ganze Sache ja ins Rollen gekommen. Deshalb bring ich es jetzt auch zu Ende. Also, meine Damen und Herren. Danke, dass Sie hier waren. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Äh... erinnert sich jemand von Ihnen an die Ermordung Bruno Kreiskys?“

Das begeisterte Publikum, so interpretiere ich den verdienten Applaus für die drei auf der Bühne grandios Schauspielenden und die hinter den Kulissen der Bühne agierend-Inszenierenden, hat ein Stück gesehen, das im Wesentlichen von der perfekt inszenierten Spiegelfunktion des vielschichtigen, klugen Textes lebt. Weiters generiert sich „Die Ermordung Bruno Kreiskys“ aus der Ironie und der Selbstironie, sie speist sich aus Übertreibungen und Phantasien, sie verführt mit fiktiven historischen Annahmen, die sich auf eine große Persönlichkeit der Zweiten Republik Österreichs fokussieren, den SPÖ Politiker Bruno Kreisky (1911-1990), der von 1970 bis 1983 Bundeskanzler war. Diesen historischen Bruno Kreisky, der mit Willy Brandt und Olof Palme maßgeblich auch die Sozialistische Internationale repräsentierte, schickt Wolfgang Mörth aus einem ursprünglich als Erzählung entstandenen Text in ein skurriles Drama, eine Durch-und-durch-Komödie, die die Babyboomer Generation an manchen Stellen auch verwirrt und im Zweifelsfall ins eigene Geschichtsnarrativ hineinlesen und zoomen lässt. Wie war das wirklich, damals?

The Making of History

Im Mittelpunkt stehen die Ereignisse um die Volksabstimmung zum bereits gebauten Kernkraftwerk Zwentendorf, ein Thema, dessen sich – gefüttert von den Erzählungen und Geschichtserfindungen ihrer männlichen Vis-a-Vis-Protagonisten – die Diplomandin der Politik- und Kommunikationswissenschaften, Melanie Brand, annimmt. Doch Mörth hütet sich, als besserwisserischer moralisierend-moderierender Geschichtelehrer zu fungieren. Sein Stück lebt im Wesentlichen zentral von den Kalauern, jenen durch die von der eigentlichen geschichtsgeschriebenen Geschichte abweichenden Ereignissen sich öffnenden Leerstellen, die das Stück, sehr flott dahinflutschend, gleichzeitig aber auch geschickt schmeichelnd, gelegentlich fast schon am Rande des noch Zuträglichen, besonders in den zwei Szenen vor der Pause. Und es lebt von den sich gegen Ende zu immer mehr verdichtenden Zitaten aus der Musikgeschichte, jenen Songs, die im Stile eines Music-Title-Droppings heruntergeplärrt werden, - in Momenten, in denen sich die beiden männlichen Protagonisten schier überbieten und jede Conchita an die Wand singen – für eine eigene ORF Fernsehunterhaltung direkt entdecken ließen, sofern die Intendanten eine Ahnung von Musikkunst hätten. Die BesucherInnen gehen vermutlich auch deshalb so „beglückt“ aus der Vorstellung hinaus ins Foyer und ins Freie, weil sie ihre eigene, ihre persönliche Musiksozialisation wie in einer Zeitraffer-Jukebox angeliefert und aufgefrischt bekommen. An etlichen Stellen höre ich noch meine Publikumsumgebung, die den einen und anderen Song mit summt, textlich ziemlich ajour und stringent. Damit sind wir schließlich aufgewachsen. Mit diesen Texten haben wir – oft zur Verwunderung der Lehrkräfte - unsere Schularbeiten geschrieben. Von „Bobby Brown“ über John Lennons „Imagine“ bis „Smoke on the Water“. Vom „Zentralfriedhof“ bis, doch nein, das Stone’sche „Can’t get no …“ lassen Mörth / Jagg weg. Dann wäre die Musikzitatidylle in sich gekippt oder zumindest gebrochen.

Die Gänseblümchenwiese

Auf der Theater Kosmos Bühne, auf der wie in einem analytischen Drama Henrik Ibsens die Schauplätze parallelisiert aufgebaut sind, linkerhand eine Schisprungschanze als eine grüne Matte, die in eine Gänseblümchenenwiese übergeht, ohne Schnee; rechts daneben ein therapeutisches psychoanalytisches Setting, ganz im verfremdeten freudianischen Stil, und, Bühnen mittig, ein Schiedsrichterstuhl wie auf einem Tennisplatz, den Hubert Dragaschnig, alias Rainer Pichler, als gelegentlich fast schon „hysterisch“ ungeduldig agierender Psychoanalytiker, also ganz antifreudianisch, besteigt, um von oben auf seinen auf einer mit Teppichen belegten Schrägcouch zu liegen kommenden Patienten Hans Doppler (Bernd Sračnik), HTL-Lehrer (ausgerechnet!) und Schriftsteller (Mörth, ein Meister der Mehrfachironisierung …) herunter zu schauen. Sigmund Freud würde das in seiner 1904 erschienen „Psychopathologie des Alltagslebens“ als olympisch-österreichisches Schizauberphänomen wohlwollend goutieren. „Man sollte nicht so anmaßend sein zu glauben, dass einem alles gelingen müsste.“ (Mörth, alias Kreisky)

Babyboomer

Die drei Protagonisten spielen jedoch nicht nur miteinander, wobei die beiden 57-jährigen Männer sich das Stück hindurch eifersüchtelnd um die 25-jährige Melanie Brand, (Michaela Spänle), „mätschen“ (Ingrid Bertel in ihrem ORF Beitrag). Im Eingangsmonolog liefert sie ihren persönlichen Steckbrief direkt ohne Umschweife, sie weiß, wer sie ist, sie weiß, was sie will und wie sie es will: „Melanie Brand. Jung, selbstbewusst, flexibel. Verteidigerin & Nutznießerin des Feminismus. Selbst allerdings schon wieder postfeministisch. Zu meiner postfeministischen Flexibilität gehört, dass ich als freie Mitarbeiter bei einer lokalen Zeitung arbeite. ‚Frei‘ im Sinne von ‚Jederzeit frei zum Abschuss‘. Das war mir von Anfang an bewusst. Am Wochenende steh ich hinter der Theke einer Bar. Von irgendwas muss ich ja leben. Und dann studiere ich natürlich. Politologie und Kommunikationswissenschaften.
Habe ewig nach einem Thema für meine Bachelor-Arbeit gesucht. Bis Rainer mich darauf gebracht hat.“ Sie ist, es sei wiederholt, nicht nur Journalistin und Politologie-Studentin, sondern auch Barkeeperin, um die sich die beiden Herren das Stück hindurch bis … buhlen „Nur eine Melanie ist in der Lage, die männliche Dummheit derart drastisch zur Geltung zu bringen. Auch meine übrigens.“ – hören wir den Analytiker sagen – „Ihretwegen riskiere ich meine ohnehin schon bröckelnde Reputation. Oder würden Sie einen 57-jähren Analytiker konsultieren, von dem Sie wissen, dass er sich mit einer 25-Jährigen Klientin vergnügt? Sehen Sie.“

Die beiden 57-Jährigen dialogisieren nicht nur miteinander und mit der Buhlschaft, sondern dialogisieren fortwährend auch mit dem Publikum, als wollten sie nicht nur dessen Selbstvergewisserung abholen, sondern dieses selbst auch bestärken, im richtigen Stück zu sein: „Sind noch ein paar andere echte Babyboomer im Saal? Ich meine Männer so um den Jahrgang 60 herum? Ist es euch nicht auch so gegangen? Seid ihr nicht auch immer schon verwirrt gewesen und aufgewühlt und nie irgendwo wirklich zu Hause. Musikalisch, politisch, sexuell. Wie das Komma zwischen zwei Hauptsätzen. Für 68 zu jung, für den Mauerfall zu alt. Für Apollo zu jung, für das Space-Shuttle zu alt. Für die Beatles zu jung, für Bowie eigentlich schon zu alt. Aber genau richtig für die letzten Nazilehrer und die ersten Antiautoritären. Und für die letzten katholischen Fundamentalisten und die ersten solipsistischen Zyniker. Aber dann für den Playboy wieder zu jung und für das Bravo zu alt. Für die freie Liebe zu jung und für Aids zu alt. Stimmt doch, oder?"

The Plot

Es geht um die 1978er Volksabstimmung über das Atomkraftwerk Zwentendorf an der Donau im Bezirk Tulln, die deshalb positiv ausgeht, weil nämlich ein Vorarlberger HTL-Schüler einen pro-Zwentendorf-Leserbrief schreibt, aus dem Kanzler Bruno Kreisky kurz vor der Volksabstimmung im Fernsehen einen Ausschnitt vorliest und, übrigens, zu Tränen gerührt ist, wie der Leserbriefschreiber. Diese Ausgangsperspektive verändert den skurrilen Gang der ganzen Geschichte. Und gleich zu Beginn stellt Wolfgang Mörth im Theatertext klar, dass Hans Doppler auf eine Art meschugge ist, plemplem, und dass es in dem Stück nicht um eine historische Auseinandersetzung um das Kreisky-Narrativ geht, sondern um das Lebensgefühl einer ganzen Generation, die im Publikum gut vertreten war. Ich weiß nicht, wie das Stück für eine jüngere Generation funktioniert. Man müsste mit jungen BesucherInnen darüber reden und sie um ihre Meinung befragen und ob sie uns nicht samt und sonders als grandiose Spinner einschätzen, die sich an einer herausragenden Persönlichkeit der österreichischen Geschichte, die nie slim-fit Anzüge trug, dermaßen amüsieren können.

Time’s on our Side

Für die Babyboomer Generation – wenn man im Foyer des Theaters die von Esche Leissing gestalteten Collagen der Mitglieder der Kreisky Regierung sieht (Broda, Firnberg, Androsch, Dohnal, Sinowatz, Lacina, Gratz, Staribacher, Kirchschläger, Lanc, Lütgendorf, Dallinger, Sekanina) – an dieser Stelle erspare ich mir jeden Kommentar zu den Akteuren der aktuellen politischen Situation in Österreich! - sieht man wie auf einer Galerie jene Makers of History, die in vielerlei Hinsicht die Grundfesten der Politik der Siebzigerjahre maßgeblich gelegt hatten. Zur Emanzipation einer Generation und einer Gesellschaft, vom Strafrecht Brodas bis zur Sinowatz’schen Bildungspolitik, von den Firnberg’schen Universitätsstrukturreformen bis zu den frauen- und damit auch männerpolitischen Reformen Johanna Dohnals.

Das Gerüst der Komödie ist schnell umrissen: Bruno Kreisky, so phantasiert der ehemalige Schispringer Hans Doppler nach dem Sturz über die Schanze. sei ermordet. Sein bester Freund und Psychologe, Rainer Pichler, will ihn heilen, so zumindest verspricht er es ihm, doch für die eigennützig agierende Politologie-Studentin klingt das gerade deshalb interessant, weil sie ein geeignetes Thema für ihre Bachelor Arbeit sucht. Beim stringent zum Scheitern verurteilten Versuch, das Problem des Patienten zu lösen, verstricken und rivalisieren sich Patient und Psychologe in den Geschichtsmythen der Ära Kreisky und der 70er-Jahre. Sie buhlen ziemlich wüst um die Zuneigung der jungen Studentin, herausragend gespielt von Michaela Spänle. Diese Marion Brand „spielt“ ihre eigene Story, an der sich die beiden Männer in ihren Liebesbeweiskapriolen überbieten und zum Affen machen. „Wobei: Mein emotionales Erinnerungsvermögen ist, was Männer angeht, nicht besonders ausgeprägt.“ Die Frage als roter Faden im Stück von Mörth bleibt, was ist ihr wichtiger, die originelleren Informationen über Bruno Kreisky, die über den Zitatstehsatz „Ein paar Milliarden Schulden mehr bereiten mir weniger schlaflose Nächte als ein paar hunderttausend Arbeitslose.“, hinausgehen, die wahrhaftigere politische Haltung oder der bessere Musikgeschmack … Oder, ob es letzten Endes dann doch auch „diese hormonelle Anfälligkeit“ bleibt.

Die Fußnoten zur Geschichte „Ich bin der Meinung …“ bleiben der individuellen wie kollektiven Erinnerung bzw. dem Selbststudium der Quellen überlassen; ob die österreichischen Geschichtsbücher mittlerweile von gehobenerer Qualität sind, oder gar multiperspektivischer als vor 17 Jahren, muss an dieser Stelle offen bleiben. Diese Theater Kosmos/Wolfgang Mörth-6,0 Komödie allerdings sollte man/frau gesehen haben. Gelegenheit dazu gibt es bis Ende Oktober.

Regie: Augustin Jagg
Bühne: Mandy Hanke
Musik: Herwig Hammerl
Weitere Vorstellungen: 12., 13., 14., 19., 20., 21., 25., 26., 27. und 28. Oktober 2017, jeweils 20 Uhr
Ausstellung im Foyer: Edgar Leissing
schoeller 2welten, Mariahilfstraße 29, 6900 Bregenz
www.theaterkosmos.atoffice@theaterkosmos.at
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