Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Mirjam Steinbock · 27. Mär 2017 · Theater

Die synchrone Kraft der Gruppe – Das St. Galler „Panorama Dance Theater“ schwärmt mit höchster Energie aus

Im Gleichschritt laufen, miteinander singen, gemeinsam tanzen. Synchron zu sein gibt Energie, Sicherheit und ein getragenes Gefühl. Dieses Phänomen machen sich einige Arten des Tierreichs regelmäßig zunutze, um Futter zu finden und sich vor Feinden zu schützen. Bei Untersuchungen am Schwarmverhalten von Heringen, Staren oder Heuschrecken entdeckten Wissenschaftler die Intelligenz der Gruppe. Die Kulturwissenschaftlerin Ann Katrin Cooper und der Tänzer Tobias Spori forschten für ihre neue Tanzproduktion THE WISDOM OF THE CROWD genau an diesem Thema, fanden in einer Audition fünf weitere Tänzer und produzierten ein Stück, das sich mit den unterschiedlichen Konstellationen und Emotionen innerhalb eines Kollektivs beschäftigt.

Bei der Premiere in der Lokremise erhielt das Publikum eine Darstellung von einer sich stets steigernden, unerschöpflichen Energie, die sich am Ende in frenetischem Applaus entlud. Sechs Tänzer aus Italien, Spanien, Hong Kong und der Schweiz verwandelten die weiß ausgelegte Bühne der Lokremise im Laufe des 60-minütigen Stücks in einen urbanen Parcours und hielten bis zum Schluss ihr High-Level an Energie, Ästhetik und körperlichem Ausdruck. Mit sechs weißen Holzboxen in verschiedenen Größen bauten sie Landschaften und Szenen und agierten mit den Elementen als ein sich ständig in Bewegung befindender Organismus.

Stimmige Einführung


Zu Beginn des Stücks legt die künstlerische Leitung mit Cooper und Spori Wert auf eine stimmige Einführung in die Individualität der Player. David Vilariño Gonzalez, Marc Lapuerta Lizana, Antonio Marino, Marco Di Nardo, King San Lo und Tobias Spori betreten die Bühne nacheinander und wechseln zwischen Tanzsequenzen und beobachtenden Gesten ab. Sie lassen sich viel Zeit, den Schwarm zu bilden. Begleitet von einem Soundteppich aus verschiedenen instrumentalen Klängen und Geräuschen der Umgebung, die zum Teil direkt von Antonio Marino mit der Loop-Station eingespielt werden, finden die Tänzer in gemeinsamen Bewegungen am Platz und im Raum zusammen. Sie umrunden die stehenden und liegenden Holzboxen in verschiedenen Tempi und bilden im warmen Licht lange Schatten. Die genaue Arbeit am Bewegungsmaterial und deren exakte Ausführung durch die Tänzer erinnert unvermittelt an Vogelschwärme, die von unsichtbaren Impulsen geführt, neue Formen in der Luft bilden. So auch hier. Nahezu lautlos und im Konsens bewegt sich die Gruppe vorwärts bis sich jeweils ein Einzelner daraus löst und sein Solo zeigt. Die anderen liegen inzwischen in akrobatisch eingenommenen Positionen in den Boxen, sitzen oder stehen auf ihnen oder schieben sie durch den Raum.

Spielerischer Umgang mit den Elementen


Elegant schwingen sich die Tänzer auf die überlebensgroßen Bühnenelemente, indem sie die Körper der anderen als Hilfestellung nutzen. Sie tragen sich gegenseitig in Drehungen über die Bühne und hin und wieder huscht trotz offensichtlicher Anstrengung ein Lächeln über die Gesichter, bevor es in den nächsten Sprung oder in eine Bewegung auf dem Boden geht. Man sieht Elemente aus dem Breakdance, dem zeitgenössischen und klassischen Tanz ganz selbstverständlich neben versierten Griffen aus dem Klettersport und Körperhaltungen aus dem Parcours. Sobald sich die Tänzer elegant über die gestapelten und aneinander gelehnten Boxen gleiten lassen, sich unter ihnen her winden und in vollendetem Bogen von ihnen hinabspringen, ergibt sich ein spielerischer Charakter, der sich in einigen Kampfszenen wiederholt. Das Ganze erinnert an eine Herde junger Pferde, die übermütig ihre Kräfte messen und in schneller Wendigkeit wetteifern.

Hohe Ansprüche und Ästhetik


Stehen die Tänzer schließlich in einer Reihe hintereinander und zeigen ihre Armchoreografien, die wie schlangenförmige Bewegungen ineinandergreifen, wird man im Publikum so fasziniert wie andächtig. Dass diese Darstellung höchste Ansprüche an Körperbeherrschung, Konzentration und tänzerischem Können erfordert, ist offensichtlich. Allerdings bleibt sie in ihrer glanzvollen Ästhetik auch etwas außen vor. Die Einbeziehung des Publikums gelingt trotz wiederholter Kontaktaufnahme mit Blicken von den Tänzern nicht ganz. Erst wenn zum Schluss aus den Boxen die Klänge eines großen Blechbläser-Orchesters dringen und der Balkan-Sound unvermittelt zum Mitwippen einlädt, greift die Energie auch auf die Zuschauerränge über. Diese Überraschung wirkt zwar entspannend und begeisternd, stellt aber auch einen Bruch zur Musikwahl und den anderen Szenen dar.

Strömungen der Populärkultur


Eine politische Fragestellung oder eine provokante Anregung lässt sich in diesem Stück nicht klar erkennen. Dabei hätten einige Szenen eine gute Vorlage dazu geboten: Wenn die Tänzer die Boxen als Instrument benutzen und einen Rhythmus auf ihnen schlagen, hätte es etwas mehr Wucht als Zitat für Propaganda-Strategien vertragen und auch in der Sequenz, in welcher der Schwarm beinahe autoritär den ganzen Raum vereinnahmt, hätte die Darstellung des Bedrohlichen voll ausgeschöpft werden dürfen. Die im Programm des Stücks erwähnten offenen Fragen, wie beispielsweise ob sich jeder Einzelne neu positionieren muss, um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, werden im Stück nicht spürbar. Und gerade das hätte der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gruppendynamik wohl getan und Perspektiven öffnen können. So wurden eher Strömungen der Populärkultur wie Musik- und Tanzstile, Bewegung und Sport aufgezeigt – gewürzt mit dem typischen Verhalten des Kollektivs.

Chance auf mehr Reflexion


Laut Tobias Spori soll THE WISDOM OF THE CROWD in Zukunft auch Jugendlichen angeboten werden oder gar im öffentlichen Raum zur Aufführung kommen. Sie seien mit den Boxen mobil und auch auf Licht könne das Stück verzichten, so der Choreograf des Stücks. Es ist gut vorstellbar, dass diese Produktion im urbanen Raum genau jene Auseinandersetzungen und Reflexionen hervorrufen können, die auf der Bühne etwas zu kurz kamen. Und eine Besonderheit der Tanzkompanie ist es schließlich, ihre Stücke an so außergewöhnlichen wie alltäglichen Orten zu zeigen.