Anna Hints‘ preisgekrönter Dokumentarfilm „Smoke Sauna Sisterhood“ ist derzeit in den Vorarlberger Kinos zu sehen.
Peter Niedermair · 13. Jun 2018 · Theater

Anart-Theater Hard „Der wunderbare Massenselbstmord“ nach dem Roman von Arto Paasilinna - „Vom Glück im Scheitern: Hoffnungsvolle Selbstmordstrategien aus Finnland“

Die grotesk-absurde Komik des makabren Themas entfaltet sich in der Aufführung des Harder Anart-Theaters mit spielerisch-fröhlicher Heiterkeit. Aus dem erfolgreichen Roman des in Finnland populären Autors Arto Paasilinna, übersetzt von Regine Pischel, haben Katharina Schöfl und Dagmar Ullmann-Bautz das Destillat einer eineinhalbstündigen Bühnenversion gefiltert, die zu einem melancholisch-witzigen Plädoyer für das Leben wird. Von Anfang an ist klargestellt, dass man mit einer grandiosen Inszenierung à la Ullmann-Bautz und den Mitteln des Theaters auf diese Weise mit dem Selbstmord spielen darf. Auch wenn jeder weiß und alle wissen, dass der Suizid ein Tod wie kein anderer und jeder individuelle Suizid einzigartig und der Schmerz für jene, die zurückbleiben, universell ist.

Gleich zu Beginn, in der Ouverture zum Stück, wird in herrlich skandiertem Einzel- und chorischem Wechselspiel jenes den Finnen zugeschriebene Weltbild sprachlich plastisch auf die Bühne, eine große Lagerhalle in Hard, gehoben. „Der ärgste Feind der Finnen ist die Melancholie. Trübsal. Grenzenlose Apathie. Schwermut. Die Melancholie hat sich im Lauf der Jahrtausende alle Menschen des Landes unterworfen, so dass ihre Seelen düster und ernst sind.“ Der Chor differenziert wie in einem Mantra das semantische Feld der Melancholie: „Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Niedergeschlagenheit, Trauer, Teufelskreis, Freudlosigkeit, Seelenschmerz, Wehmut, Weltschmerz, Trostlosigkeit, Katzenjammer.“
Im Mittsommernachtslicht unweit des Polarkreises setzt daraufhin Reinhard Hämmerle alias Onni Rellonen, der Geschäftsmann, das finstere finnische Gemüt in einen politischen Kontext. Dieses sei allemal ein schlimmerer Feind als einst die Sowjetunion. Die Wirkung sei so verheerend, dass viele nur im Tod die einzige Rettung aus der Bedrängnis sehen, worauf der Chor wirkungsvoll und programmatisch-klassisch reagiert: „Die Finnen sind jedoch ein Volk von Kämpfern. Johannis, das mitsommerliche Fest des Lichtes und der Freude, ist für die Finnen wie eine gewaltige Schlacht, in der sie die zehrende Schwermut mit vereinten Kräften zu bannen versuchen.“

„Wenn ein Selbstmord missglückt, so ist das nicht unbedingt die traurigste Sache der Welt“

Das Stück beginnt am Morgen nach der Johannisnacht, die Nacht auf den Johannistag, vom 23. auf den 24. Juni, dem mittsommerlichen Fest des Lichts. Das Wetter ist ruhig und klar. Der Geschäftsmann Onni Rellonen, Bauunternehmer, Walzblechfabrikant und Wäschereibesitzer, holt sich die Patronen zu seinem Revolver hervor. Vier Konkurse und dazu noch eine lieblose Ehe sind für ihn genug, dem Leben ein Ende zu setzen. Sein Entschluss steht fest. Doch die Scheune, die er sich in der Einsamkeit der finnischen Landschaft - in der Provinz Häme am Ufer des Humalajärvisees - für sein Vorhaben aussucht, ist bereits besetzt. Dort ist ein Oberst der finnischen Streitkräfte ebenfalls fest entschlossen, sein trauriges Leben zu beenden. Als er sich gerade die Schlinge um den Hals legt, öffnet sich die Scheunentür: ‚Kemppainen, Oberst Hermanni Kemppainen.‘ – ‚Onni Rellonen. Freut mich.‘ Jetzt sind sie schon zu zweit. Das Aufeinandertreffen der beiden Protagonisten verhindert das jeweilige Vorhaben. Elsa Taavoitsainen, die Hausfrau, kommentiert diese groteske Situation: „Wenn ein Selbstmord missglückt, so ist das nicht unbedingt die traurigste Sache der Welt. Dem Menschen gelingt nicht alles.“

Das skurrile Roadmovie über das Glück des Scheiterns ist an zahlreichen Stellen derart prall gefüllt mit liebenswerten, hier ironisierten Klischees, die man in gestischen Anspielungen aus den Filmen von Aki Kaurismäki, dem „Chef-Melancholiker des europäischen Autorenkinos“, kennt. Die Thematik des Massenselbstmords getränkt mit Zitaten geht über in lakonischen Humor und nimmt anarchistische Züge an. „Am allerwichtigsten in diesem Leben ist der Tod, und auch der ist nicht wirklich wichtig.“ (Finnische Volksweisheit)

Eine Reise ohne Wiederkehr

Auf den ersten Schreck gehen die skurril-tragischen Antihelden erst einmal einen Schnaps trinken und dann in die Sauna, wohin sonst. Dabei entwickeln sie die geniale Idee, ob es nicht viel stilvoller wäre, in einer Gruppe Gleichgesinnter aus dem Leben zu scheiden, als sich im stillen Kämmerlein aufzuknüpfen. Man könnte die letzten Stunden in angenehmer Gesellschaft verbringen und vielleicht gäbe es ja sogar Rabatt auf die Todesanzeigen ... „Denkst du an Selbstmord? Du bist nicht allein!“ - so lautet der ungewöhnliche Anzeigentext, der in den Zeitungen geschaltet wird und mit der Existenz vieler Gleichgesinnter rechnet. Die Annonce ist sehr erfolgreich, der gescheiterte Unternehmer Olli Rellonnen hätte nie erwartet, dass es so viele sind, die Gleiches vorhaben. Sie erhalten über 600 Zuschriften lebensunwilliger Finnen, die bereit sind, kollektiv aus dem Leben zu scheiden und dafür auch ordentlich zu blechen.
Aus diesem zunächst vagen Vorhaben entwickelt sich ein konkreter Plan. Es gibt noch ein Einführungsseminar (die Organisationsentwicklung à la NLP lässt grüßen) in Helsinki – wunderbar ironisiert auf die Bühne gebracht von Laien-Schauspielerinnen und –Schauspielern, die in dieser Phase zur Höchstform auflaufen, und ein harter Kern begibt sich auf die Reise. Sie chartern einen Bus, um an einer einsamen Stelle in Finnland gemeinschaftlich das Leben zu beenden. Am vereinbarten Tag steigen die reisefreudigen, unternehmungslustigen Suizidkandidaten in den Bus und starten ihre „einzigartige Reise ohne Wiederkehr“.

Arto Paasilinna - ein Meister des skurrilen Humors - kennt seine Landsleute

„Am allerwichtigsten in diesem Leben ist der Tod, und auch der ist nicht wirklich wichtig“, zitiert Arto Paasilinna einen Leitsatz der halbjährig lichtarmen, von Depressionen heimgesuchten Finnen aus dem skandinavischen Norden. Arto Paasilinna kennt seine Landsleute, die sich Jahr für Jahr zu Tausenden das Leben nehmen. Er hält ihnen auf seine locker, humorvoll-skurrile Art den Spiegel vor. Der Unternehmer Rellonnen wittert das Geschäft des Lebens und bietet Selbstmordtouren in den Schwarzwald an, ein buntes Rahmenprogramm und kostengünstige Entsorgung inklusive. Ein Stück für Liebhaber des schrägen Humors. Für eine Nacht im Jahr genießt das Volk seine Freiheit.
Arto Paasilinna, der Autor des „Wunderbaren Massenselbstmords“, wurde 1942 im lappländischen Kittilä/Nordfinnland geboren und arbeitete als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Der Meister des skurrilen Humors, dessen im Jahresrhythmus erscheinenden neuen Bücher jeden Herbst erwartet werden, wurde mit seinen Romanen zunächst in Frankreich bekannt. Er hat bis heute an die 40 Romane veröffentlicht, von denen viele verfilmt wurden. Seine Bücher sind in 45 Sprachen übersetzt. Als sein bisher erfolgreichstes Buch gilt „Jäniksen vuosi“ ("Das Jahr des Hasen").
Eigentlich befasst sich das Stück mit einem ernsten Thema, doch Paasilinna nimmt es gelassen. Die finnische Mentalität wird ausgiebig und übertrieben dargestellt. Während der Reise zum stilgerechten Selbstmord treffen die Betroffenen nicht nur auf andere, lebensbejahendere Finnen, sondern auch auf Deutsche, Franzosen und Schweizer. Auch hier spart Arto Paasilinna nicht mit überspitzten Darstellungen der Eigenarten: Die Deutschen sind nationalistisch, die Franzosen liebestoll und die Schweizer machen Meister Propper Konkurrenz. Das stimmt natürlich alles nicht, nicht wirklich, aber doch ein bisschen, so wie diese Zuschreibungen eben für alle gelten. Das Stück ist witzig und genial, großartig inszeniert und exzellent gespielt. Ich habe im Theater in den letzten Jahren selten so gelacht (was vielleicht auch etwas über meine Auswahl der Stücke sagt …).
Dagmar Ullmann-Bautz und ihr Ensemble haben sich den langen Applaus am Ende sehr verdient. Ach ja, nehmen Sie sich einen Fächer mit, es kann heiß werden in der Halle - auch wenn ich den Wetterbericht für die nächsten Tage noch nicht gesehen habe.

 

Anarth-Theater Hard „Der wunderbare Massenselbstmord“ nach dem Roman von Arto Paasilinna
Regie: Dagmar Ullmann-Bautz
Schauspieler: Reinhard Hämmerle, Hans Braun, Angela Gangl- Bereuter, Elke Gander, Simona Wulf, Denise Partsch, Ulli Filler, Maria Keckeisen, Verena Steurer, Elisabeth Lindner, Jenni Hurme, Jérôme Blenk, Thomas Reif, Dominik Greissing, Claudius Lässer, Fabian Hämmerle
Kostüme: Ursula N. Müller
Bühne: Ursula N. Müller und Dagmar Ullmann-Bautz
Musik: Thomas Reif
Maske: Flora Plank
Aufführungsort: big move halle, Hämmerle Spezialtransporte, Grafenweg 15, 6971 Hard
Weitere Aufführungen am 14. / 15. / 17. / 22. / 23. Juni 2018 jeweils 20 Uhr
Kartenreservierung unter anarttheater@gmx.at oder 0677-62290605
Infos: www.anarttheater.at oder auf Facebook