Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Dagmar Ullmann-Bautz · 28. Mai 2011 · Theater

Tief in die Seele geblickt!

Das Vorarlberger Landestheater zeigt mit der österreichischen Erstaufführung von „An der großen Straße“ einen ganz jungen Tschechow

Es wird vermutet, dass Anton Tschechow das dramatische Gedicht „An der großen Straße“ als junger Mann kurz nach Abschluss seines Studiums 1884 geschrieben hat. 1885 wurde es jedenfalls von der Zensur als „finsteres und schmutziges Stück“ beurteilt und verboten. Tschechows Text schildert sehr realistisch und eindrücklich die damalige Zeit, die wahrlich eine finstere war. Er zeichnet das verstörende Bild einer feudalistischen Zweiklassengesellschaft, unpathetisch und nicht moralisierend. Den Zuschauer lässt er tief in die Seele der Menschen blicken, macht ihre Sehnsüchte, ihre Wünsche, ihre Leiden nur allzu sichtbar. Der damals regierende Zar Alexander III war ein Gegner jeglicher Reformen und Liberalisierung. Er erweiterte die Machtbefugnisse der Polizei, und zunehmend mehr Anarchisten, Populisten und sozialistische Revolutionäre wurden kurzerhand nach Sibirien deportiert. Mit der Zeit war ihm die Feindschaft aller Klassen in Russland so gut wie sicher.

Poetischer Text gelassen präsentiert

Menschen unterschiedlichster Herkunft treffen sich zwangsweise für eine Nacht in einer Schenke, eher einer Spelunke. Ein schweres Unwetter hat ihre Reise unterbrochen, sie Schutz und menschliche Nähe suchend an diesen kläglichen Ort gespült. Man trinkt Wodka, nicht wenig, man schwatzt, man jammert und klagt, man sucht Verbündete und schätzt die Gegenspieler ein, besingt gemeinsam einen vermeintlich Toten. Der Text hat Poesie und Katja Lehmann, die junge ambitionierte Regisseurin, hat ihn Satz für Satz seziert und präsentiert ihn mit stoischer Ruhe, mit wunderbarer Gelassenheit. Die musikalische Geräusch- und Klangkulisse von Ludwig Berger ist geprägt von einer faszinierenden Vielfältigkeit und trägt sowohl den Text als auch die Menschen auf der Bühne.

Homogenes Ensemble

Was Tschechow mit ganz einfachen Sätzen zu erzählen vermag, ist einfach grandios, kommt aber auch besonders durch die sehr sensible und aufmerksame Regiearbeit zur Geltung. Die Homogenität des Ensembles tut das Ihre dazu. Das Spiel der SchauspielerInnen hat das Spektrum eines großen Flusses mit einer kleinen munter sprudelnden Quelle, dem trägen, breit und langsam dahinfließenden Gewässer und einem sich stark verzweigenden Mündungsdelta. Jeder einzelne, Heide Capovilla, Christian Graf, Katrin Hauptmann, Andreas Jähnert , Lukas Kientzler, Alexander Julian Meile, Wolfgang Pevestorf, Mario Plaz, Jens Ole Schmieder und Olga Wäscher, ist sehr  genau in seiner Figur. Und obwohl keiner wirklich viel Text zur Verfügung hat um seine Geschichte zu erzählen, sind die einzelnen Schicksale den Figuren ins Gesicht, den Körper, in den Ausdruck, die Gestik geschrieben. Die kleine Schar des Statistenchors, Willi Kiesenhofer, Tatjana Leimbach, Hans Helmut Riedl, Erwin Schuler und Karoline Sismann, fügt sich schön ins große Ganze.

Düster-stimmiges Bühnenbild

Textiles beherrscht die Bühne. Die Menschen sind in viele Schichten Stoff gehüllt, überall liegen Tücher in Bahnen und Fetzen herum. Riesige Stoffbahnen, hauchzart, transparent aber auch dicht und schwer, hängen vom Schnürboden, bauen Räume, trennen, verhüllen, grenzen ab, bieten Schutz. Der Künstler und Fotograf Thomas Wörgötter zeichnet für die Ausstattung verantwortlich. Er entwarf ein schönes, sehr düsteres, ein stimmiges Bild - fast wirkt es wie ein Gemälde, was es ja auch ist – ein Sittengemälde, eine Ikone der damaligen, russischen Gesellschaft. Sparsam doch punktgenau eingesetztes technisches Licht (Arndt Rössler) in der Kombination mit  dem warmen, lebendigen Schein vieler Kerzen vertiefen die Wirkung von Text, Schauspiel, Musik und Bühne.
Ein anstrengender aber Achtung gebietender Theaterabend, der vom Premierenpublikum auch als solcher gewürdigt wurde.