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Peter Niedermair · 03. Okt 2015 · Theater

„Die Stadt“ von Martin Crimp - Exzellentes Theater im Theater KOSMOS

Das Theater KOSMOS hatte am 1. Oktober 2015 Premiere mit dem Stück „Die Stadt“ des englischen Autors Martin Crimp. Wir sahen eine Österreichische Erstaufführung mit Suse Lichtenberger, Bernhard Majcen, Selfina Ströbele und Sophia Tschanett. Regie Hubert Dragaschnig, Ausstattung Reinhard Taurer, Musik Herwig Hammerl, Licht Adrian Boss, Dramaturgie Augustin Jagg. Im Foyer des Theaters gibt es die das Stück ergänzende Ausstellung „Erinnerungsgebäude“ von Edgar Leissing.

Der Autor


Martin Crimp, Jahrgang 1956, aufgewachsen in Dartford/Kent, studierte englische Literatur in Cambridge. Er hatte sein Debüt als Dramatiker 1982 mit Living Remains, schrieb seither zahlreiche Stücke, wurde mehrfach ausgezeichnet für seine Hörspiele und Opernlibretti, besorgte Übersetzungen und schrieb Bearbeitungen, u.a. Le Misanthrope nach Molière und Ionescos Die Stühle, ein Stück, das 1998 in der Regie von Simon McBurney erfolgreich am New Yorker Broadway aufgeführt wurde.  Der Autor lebt heute in der Nähe von London. 2007 schrieb er am Drehbuch von François Ozons Angel – Ein Leben wie im Traum. Für The Treatment - Der Dreh erhielt er 1993 den John Whiting Award, doch erst Attempts on her Life - Angriffe auf Anne, 1997 uraufgeführt am Royal Court Theatre, machte ihn zum internationalen Star. In diesem Stück soll aus den sich widersprechenden Behauptungen verschiedener Leute auf den Charakter und das Leben der abwesenden Hauptfigur geschlossen werden. Das ebenfalls sehr erfolgreiche Stück The Country - Auf dem Land 2000 dreht sich um Richard, einen Arzt, der angeblich auf der Suche nach einem idyllischen Leben mit seiner Familie ins Grüne zieht, doch dort stellen sich die Lebensumstände komplexer dar, als eine Geliebte von ihm auftaucht. The City - Die Stadt, wurde 2008 erstmals am Royal Court Theatre in London uraufgeführt.

Das literarisch-dramaturgische Umfeld


Das Royal Court Theatre liegt am Sloane Square im Stadtteil Chelsea. Es war neben der Royal Shakespeare Company und dem Royal National Theatre das bedeutendste britische Subventionstheater, insbesondere für das avantgardistische zeitgenössische Drama, das sich mit seinen Inszenierungen vorwiegend an ein intellektuelles bürgerliches Publikum richtete. Samuel Becketts Einakter Endspiel wurde 1957 als Premiere gegeben. Die English Stage Company förderte besonders junge Autoren und ihre Erstlingswerke, darunter John Osborne mit der Uraufführung von Blick zurück im Zorn 1956, Harold Pinter, Athol Fugard, Arnold Wesker, David Storey, Edward Bond, Caryl Churchill, Howard Brenton und Christopher Hampton. Martin Crimp ist neben Mark Ravenhill, Sarah Kane, Conor McPherson, Martin McDonagh, Marina Carr und Enda Walsh in der deutschsprachigen Theaterwelt berühmt geworden, weil er einen neuen Realismus, eine gewisse soziale Trennschärfe und Härte und damit, realistisch gesehen, Glaubwürdigkeit in das Theater brachte.

„Es gibt keinen Grund sicher zu gehen“


„Die Stadt“ als Theatertext beginnt, noch bevor man nach den ersten paar Sätzen zu ahnen beginnt, dass daran etwas so ganz Seltsames ist, mehr als ein repräsentativ gewöhnliches Stück einer dramatischen wie aufwühlenden Ehesituation; bereits mit den ersten beiden Figuren, die über eingerötelte, wellenförmige Bodenwölbungen, die diese Ungesichertheit der Charaktere von Anfang an mitsuggerieren, zwischen den großformatigen metallenen Blumen in den vorderen Teil der Bühne treten, wird die dramatische Bühnenindividualität der Figuren in den größeren Kontext der Stadt transponiert, die Waterloo Station in London Lambeth Hall. Waterloo Station wurde ursprünglich als Waterloo Bridge Station 1848 gebaut und historisch bis heute zum mit Abstand größten Bahnhof im Vereinigten Königreich. Knapp 100 Millionen Passagier-Entries und Exits wurden zwischen April 2013 und März 2014 gezählt. Auf den ersten scheinbar dialogisch angelegten Satz hin „Wie war dein Tag?“ wähnt man sich in der Exposition eines realistischen Theaterstücks; doch bald schon reden die beiden Ehe-Protagonisten Claire und Christopher sprachhandelnd aneinander vorbei, manchmal in der Antwort auch um eine Spur zeitlich vorverlegt oder retardiert einsetzend. Die Irritationen nehmen zu, als wir über eine Tochter und ein Tagebuch erfahren, über Schriftstellerei, Folter und Gefängnis und das kleine Mädchen, alles mitsamt eigentlich „traurig machende Hoffnungen“.

Eine Flut an Spekulationen


Der Einstieg in „Die Stadt“ eröffnet durchaus verschiedene Lesarten. Wenn man das von Hubert Dragaschnig genial inszenierte Stück dann jedoch auch vom Ende her sieht, läge die Überlegung nahe, dass wir in Crimps Stück aus dem Jahr 2008 uns wie in einem analytischen Drama von Henrik Ibsen oder August Strindberg aus der Zeit der vorvorigen Jahrhundertwende bewegen, in der ersten großen Rezeptionsphase der europäischen Literatur … oder ähnlich wie in Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ wir erfahren und erleben die Bühnenrealität und das sprachlich-linguistische Geschehen in allen Artikulationen, Reflexionen, Erinnerungen, Projektionen und Zuschreibungen, wie durch Claires Kopf. In Crimps Stück geht es weder um das Handeln an sich noch um eine stringente Erzählung, bedeutend sind vielmehr die Beziehungen der Figuren zueinander, die im Laufe von gut 90 Minuten vor uns auf der Bühne ausgebreitet werden.

Mit dem Auftauchen von Jenny, die in der Rolle als Krankenschwester und Nachbarin auftritt, werden wir in eine „Flut an Spekulationen“ hineingenommen. Sie beklagt sich über angeblich im Garten schreiende Kinder und sagt gegenüber Christopher „wir kennen uns!“, sie habe ihn schon einmal im Supermarkt gesehen, als er einen „Packen Broccoli“ in die Hand genommen hatte. Und sie sei nun hier, weil sie mit seiner Frau reden wolle. Und wie in einem imaginierten Film erzählt sie vom emotional leblosen Klavierspiel am Morgen, von ihrem Mann, der in den geheimen Krieg gezogen sei und sie eine Stadt angreifen, von Menschen, die sich ans Leben klammern und wie schwierig es sei mit all dem im Kopf zu schlafen, wenn die Kinder schreien. Es wird phantasiert, dass die Kinder in ihrem Zimmer eingesperrt seien, wenngleich Christopher behauptet, es sei gar kein Schloss an der Tür. In den Unterbrechungen nach diesen ersten beiden Teilen / Akten hören wir - was mich u.a. an die Stilmittel des epischen Theaters bei Brecht erinnert - dumpfe Trommelschläge auf metallischem Grund, während das Bühnenlicht die metallenen (Eis-)Blumen in eine blutrote Farbe taucht. Die Wirkung ist faszinierend. Ich fühlte mich an Stücke von Anton Tschechow, Harold Pinter, Samuel Beckett und Eugene Ionesco erinnert. Die Existenz an sich ist ausweglos. Als Zuschauer fühlt man sich in einen großstädtischen Lebensraum, quasi einen urbanen Dschungel hineingezogen, während gleichzeitig diese lauten Schläge wie als Fortsetzung der Kriegssituation, von der Jenny eben erzählt hat, durch den Theaterraum dröhnen.

Im urbanen Dschungel


Mit dem zweiten Teil spürt man, dass sich die Handlung, der Plot des Stücks, zur Nicht-Handlung hin verändert hat und sich alle vermeintlichen Gewissheiten nach und nach aufgelöst haben, die erzählerische Struktur, bzw. was Dragaschnig in seiner Rede nach dem Stück als die Architektur bezeichnet, die psychologische Kohärenz der Figuren verschwimmt zusehends, die dramaturgischen Elemente halten das Stück in einer schier unfassbaren permanenten Spannung zusammen, womit die linguistischen Elemente sich hervorragend ausbreiten können, ohne dass das Stück zerfließt, und Ironie, Spott, Sarkasmus und Zynismus uns vorführen, wie die Stadt sich in feingesponnenen Fäden auflöst, wie Christopher zusehends die Geduld verliert, völlig irritiert vor Claire steht und sie anschreit, was sie ihm denn eigentlich sagen wolle, ob sie geküsst werden wolle, wo sie doch eh ihren Willen durchsetze. Dann taucht die Tochter auf. Und wir erleben ein außergewöhnliches Schauspieltalent, Sophia Tschanett, Jahrgang 2003, eine bei „prima la musica“ im Landeswettbewerb mehrfach mit dem 1. Preis und beim Bundeswettbewerb für ihre Leistungen am Klavier mit dem 2. Preis ausgezeichnete Klavier- und Oboespielerin als Schauspielerin im Gewand einer jungen Krankenschwester; sie kommt wie eine „Amsel im Oktober“, wir hören romantisches Klavierspiel, als gäbe es etwas wie eine Alternative zur Stadt, eine antipodische Gegenwelt, etwas wie Sehnsucht. „Sie haben Recht. Es ist ein schönes Haus. Es ist in jeder Hinsicht warm. Wir sind sehr glücklich hier.“ Wir erfahren, dass die Mutter letzte Nacht nach Hause und mit ihr Blätter ins Haus gekommen seien. Die kleine Tochter greift sich in ihre Manteltasche und hat Blut an ihren Fingern.

Die Stadt der Unruhe


Doch in dem Stück „fühlt sich nichts richtig an. Alles ist künstlich!“ Wir erfahren weiterhin nur Bruchstückhaftes, auch wenn Claire am Ende aus dem Tagebuch liest, ganz so, als erhofften wir von ihr ein Stück Verbindlichkeit in dieser Welt, ein Stück Boden unter den Füßen, auf dem wir in Socken nicht so herumrutschen wie es die Schauspieler auf den gerötelten Wellen der Bühne tun, so „als gäbe es eine Stadt in mir, mit allen Geheimnissen“. Doch es ist - letzten Endes - ein Stück über ein Tagebuch, ein Mädchen, nach dem gesucht wird, über einen verzweifelten Schriftsteller, eine Ehe, in der die Partner sich in größtem Misstrauen begegnen, Claire als Übersetzerin führt uns in eine Sehnsuchtswelt am Ende Europas, sie erzählt in einer Schwebe zwischen Realität und Tagtraum von Lissabon, als führe sie mit der 28er Straßenbahn oder als säße sie dort neben der Bronzefigur Fernando Pessoas vor dem Café a Brasileira im Chiado-Viertel und diskutierte mit ihm über dessen Livro do Desassossego, Das Buch der Unruhe. Alle die Fassaden, die in Crimps Stück so scheinbar unauffällig daherkommen, lassen uns zusehends mehr und mehr eine Bedrohung spüren, die alle szenischen Ereignisse wie in einen Dauerschwebezustand getaucht erscheinen lassen.

„Es gibt keinen Grund, sicher zu gehen“ schreibt Rose Ausländer. Das dramatische Sprechen in Martin Crimps Stück ist allerdings nicht nur Teil und Folge gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, es ist dem Menschen an sich immanent, so wie es die Psychoanalyse besonders seit Sigmund Freud schon lange als Befund von der menschlichen Existenz konstatiert, siehe „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930 erschienen) und was daraus in die sprachliche Existenz fließt. Das Gefühl während des Stücks, wo man dauernd auf der Kante sitzt, at the edge of the chair, in diesem Hin- und Hergerissensein, diesem in das Bühnengeschehen Hineingezogensein, führt uns im eigentlich Sinne unsere Gefühle des Zweifelns vor, wobei man oft nicht wirklich genau weiß, sind es jetzt Traumgebilde, Phantasmagorien oder Versatzstücke aus der Realität – wir können das so wahrnehmen, weil wir Menschen sind.

Eine großartige Ensemble-Leistung


Alle schauspielerischen Leistungen sind grandios: Suse Lichtenberger als Claire, Bernhard Majcen als Christopher, Selina Ströbele als Jenny und Sophia Tschanett als Mädchen – sie alle brillieren in diesem Stück, das für mich zu einem der besten zählt, das ich je auf der Bühne hier in Vorarlberg gesehen habe. Man kann dem Theater KOSMOS, seinen beiden Leitern, Augustin Jagg und Hubert Dragaschnig, für ihre große Leistung mit diesem Stück gratulieren. Dragaschnig meinte, er habe nur zwei Halbsätze aus Martin Crimps Originaltext gekürzt, nur …. Er hat jedoch dem Stück, die Übersetzung aus dem Englischen by the way ist sehr gelungen, mit seinem gesamten Team ein großartiges künstlerisches Format gegeben. Für einen unvergesslichen Theaterabend waren mitverantwortlich: Reinhard Taurer, Ausstattung; Herwig Hammerl, Musik; Adrian Boss, Licht; Alex Kölbl, Technik; Maria Keckeisen, Requisite; Ariane Gmeiner, Maske; Karin Köstl, Produktion. Wir wollen mehr von solch exzellentem Theater.

Die Stadt in mir und Edgar Leissings Erinnerungsgebäude


Im Foyer des Theaters zeigt Edgar Leissing 42 kleinformatige Bilder, „Erinnerungsgebäude“, eine Art Erinnerungsalbum, in dem er Aufnahmen von seinen Reisen und Aufenthalten, oft auch Ausstellungsorten, sowohl typische wie auch ungewöhnliche Fotos gemacht hat, die er in digitalen Bausteinen zu sinnzertrümmernden Architekturkompositionen kollagiert. Dabei verschmelzen und überlagern sich Erinnerungen zu Gebäudekomplexen und Stadtansichten, die völlig ungewöhnlich sind, die jedoch auf kongeniale Weise das auf der Bühne gezeigte Stück von Martin Crimp „Die Stadt“ ergänzen, erweitern, spiegeln, zertrümmern so wie unsere Vorstellungen von der Stadt respektive unsere Erinnerungen an einzelne Städte immer auch subjektive Vorstellungen repräsentieren. Die Stadt, wie wir sie kennen, ist nicht nur der älteste zivilisierte Lebensraum, sondern auch verlockend und vielversprechend. Waren es gestern Babylon, die sogenannte große Hure, Theben mit seinen sieben Toren oder Rom, die ewige Stadt, so sind es heute Manhattan, Tokyo, Shanghai und Berlin, die das Image städtischen Lebens prägen. Am Beginn des 20. Jahrhunderts lebten etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, bis 1995 wuchs der Anteil auf 45 Prozent, und heutigen Prognosen zufolge werden es bis 2030 dann 60 Prozent sein. Diese Zahlen spiegeln die wachsende Bedeutung urbaner Lebensräume und deren soziale, politische, kulturelle und wissenschaftliche Diskurse. Städte sind Orte integrierter Ökonomie, Räume für soziale und politische Identitäten, Orte von Konflikten sowie kulturelle Brutstätten und Soziotope für Innovation und Kreativität. Wer die sozialen und kulturellen Entwicklungen und Trends beobachten und studieren will, begibt sich in solche urbanen Settings.

 

Wir haben derzeit die Chance, „Die Stadt“ auf der Bühne des Theater KOSMOS zu erleben.  Weitere Vorstellungen: 3. 8. 9. 10. 15. 16. 17. 23. 24 Oktober 2015 jeweils 20 Uhr; Sonntagvorstellung 25. Oktober 2015 Beginn 17 Uhr.