Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Peter Füssl · 16. Jun 2011 · Tanz

Virtuoses Spiel mit Realitäten und Identitäten angesichts des grassierenden Medienwahns – Chris Haring/Liquid Loft beschließt ein großartiges tanz ist Festival

Mit der Iceland Dance Company gastierte erstmals eine der spannendsten und innovativsten internationalen Tanzkompagnien im Land, dann gab es ein Wiedersehen mit Renate Graziadei, die ein starkes Tanz-Solostück aus Berlin mitbrachte, und zum Schluss brillierte mit Chris Haring/Liquid Loft, Österreichs Kreativpool und Aushängeschild in Sachen zeitgenössischer Tanz, sozusagen ein „Stammgast“ beim tanz ist Festival am Spielboden. Festival-Organisator Günter Marinelli bewies einmal mehr, dass sich mit Mut, einer konsequente Haltung und dem richtigen Gespür für echte Qualität und wahren Innovationsgeist auch ohne Riesenbudgets durchaus sehenswerte Tanz-Festivals programmieren lassen. Erfreulicherweise kommt mittlerweile auch das Publikum zuhauf.

Ein wahnwitziges Vergnügen

Viel anschaulicher könnte man den ganzen unerträglichen Rummel um die neuen Kommunikationsmöglichkeiten und –gepflogenheiten in den gehypten Social Networks nicht auf den Punkt bringen: diese unüberschaubare Flut an Informationen, Pseudo-Informationen und Desinformationen, an aufdringlicher Werbung und Verlockung, dieses unverfroren auf die Sensationsgeilheit der Menschen abzielende Kommerzdenken zu Ehren der durch weitere Werbaufträge geheiligten Quote. Der Turmbau zu Babel, das war gestern, in Zeiten des World Wide Web geht alles viel einfacher, leichter und schneller von der Hand. Zwei Laptops und die entsprechenden Programme genügen schon. „Talking Head“ heißt das neue Stück von Chris Haring/Liquid Loft, und die übergroßen Köpfe reden und reden und reden und reden. Manchmal unverständlich, manchmal verständlich, aber sinnfrei, manchmal in nachvollziehbaren Dialogen, etwa zwischen Kunstexpertin und Künstler oder zwischen Tanzinteressierter und Choreograph. Hinter all diesen Gesprächen steckt keine große Bedeutung, das Leben verkommt mehr und mehr zum Chatroom, wo Banalitäten durch eitle Selbstdarstellung mit vermeintlicher Bedeutung aufgeladen werden.

Komödie statt Tragödie

Stephanie Cumming und Luke Baio beherrschen dies in Perfektion. Ihre via Laptop geskypten Dialogbilder werden nebeneinander großformatig an die Wand projiziert. Mit Hilfe optischer und akustischer Verfremdungstechniken wechseln sie permanent ihre Identitäten, versuchen mit skurril verzerrten Gesichtern und wild verdrehten Körpern Eindruck zu schinden. Mit fließenden Übergängen treten sie aus dem virtuellen Net-Geschehen ins reale Bühnenleben und wieder zurück, alles beeinflusst sich wechselseitig, verschränkt und überlagert sich. In grandios witzigen Tanzpartien treiben sie mitunter mit ihren visuellen Bildschirmerscheinungen ihren Schabernack, ahmen mit Spezialeffekten bizarr verdrehte Körperbilder auch auf der Bühne nach. Hier greifen moderne Technik und virtuose Tanzkunst nahtlos ineinander, bis die Grenzen immer mehr verschwimmen und der ganze Spuk schließlich zusammenbricht. Am Ende verstecken sich die Akteure unter riesigen Kartondecken, tauchen wieder in die Anonymität ab, aus der sie am Anfang des Stückes aufgetaucht waren – jegliche Ähnlichkeiten mit dem real irrealen Internetgeschehen ist rein zufällig.  
Streng genommen müsste man aus all dem eine Tragödie basteln, Chris Haring und Liquid Loft haben sich aber dankenswerterweise dazu entschlossen, das Kommunikationsdilemma der Gegenwart als Komödie abzuhandeln. Vielen Dank!