Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Mirjam Steinbock · 10. Nov 2016 · Tanz

Und ewig lockt der Preis – Zeitgenössische Tänzerinnen und Tänzer und der Vorarlberger Kulturpreis 2016

Wer sagt schon "Nein" zu einer Nominierung für einen hochdotierten Preis in einer Sparte, in der man daheim ist und an der Lebensentscheidung, Herzblut, Schweiß und Entbehrung hängen. Alle acht nominierten Tänzerinnen und Tänzer sagten "Ja" und erklärten sich bereit, ein zehnminütiges Solo zu erarbeiten. Sie sagten damit auch ja zu einer Würdigung des zeitgenössischen Tanzes allgemein und ihres Schaffens im Speziellen. Längst fällig, fanden die Initiatoren dieses Preises, das Casino und die Sparkasse Bregenz sowie ihre Kooperationspartner Land Vorarlberg und ORF Vorarlberg. Und so wurden am 8. November acht Soli vor einer international besetzten Jury in einem zum Bersten gefüllten ORF Funkhaus in Dornbirn präsentiert.

Auf das Publikum der hiesigen Tanzszene ist Verlass. Es zeigte sich ein Netzwerk, das mit den Jahren gewachsen ist. Vielleicht erinnerte diese Fangemeinde den ORF-Landesdirektor Markus Klement an eine andere Szenerie. Er betitelte das Genre jedenfalls in seiner Begrüßungsrede als Tanzsport, was zu mehr Amüsement als Entrüstung führte - die Tanzszene ist da einiges gewohnt. Was in Vorarlberg angesichts seiner guten Veranstaltungssäle hingegen neu ist, das sind schlechte Bühnenbedingungen. Und die herrschen im Landesstudio. Ab der dritten Sitzreihe sah man nicht mehr, was sich tänzerisch am Boden abspielte.

Ihre „carte blanche“, also den Freifahrtschein, in zehn Minuten ganz frei das zeigen zu können, was ihnen beliebt und das letztlich die Jury überzeugen soll, füllten die Tanzschaffenden mit Farbe und viel Ausdruck. Und mit Mut. Der ist nämlich gefragt, wenn die eigene Idee, deren künstlerische Ausarbeitung sowie deren Darstellung in einer Person auf die Bühne gestellt und der Bewertung ausgesetzt wird. Das Ziel ist der Hauptgewinn, es winken 10.000 Euro. Zwei Anerkennungspreise zu je 2.500 Euro sind ebenfalls ausgeschrieben. Das Geld ist nicht an einen Zweck gebunden und das ist das Gute daran. Die Nominierten arbeiten ohnehin aus eigenem Antrieb und sind in künstlerische Projekte involviert. Alle haben Erfahrung darin, frei tätig zu sein. Und frei heißt in diesem Fall nicht nur, den künstlerischen Weg selbst zu definieren sondern vor allem, an keinem fixen Ensemble eines Hauses engagiert zu sein. Diese Art bezahlter Sicherheit in einem Kunstumfeld gibt es in Vorarlberg auch gar nicht, das Landestheater verfügt über kein Tanzensemble. Beste oder Bester zu sein, ist der hiesigen Tanzszene eher unbekannt. Sie arbeitet vielmehr miteinander. So haben sich die Teilnehmenden des Abends auch hier im Vorfeld gegenseitig unterstützt und KollegInnen beratend hinzugezogen. Flankiert vom Verein netzwerkTanz, der jederzeit mit Raum und Tat zur Verfügung steht.

Dominik Feistmantl, jüngster Tänzer der Nominierten, macht den Anfang. Der Bregenzer ist Absolvent der Amsterdam School of Arts und bereits international tätig. Was er zeigt, nennt er „A moment of pause“ und in dieser Pause bewegt er sich liegend vorwärts, das Gesicht mit einer Wollmütze bedeckt und vom Publikum abgewendet. Er folgt langsam und mit spielenden Muskeln in kompletter Stille einer weißen und geometrisch angelegten Markierung und löst sie vom Boden. Nachdem er sich viel Zeit mit einem bedächtigen Aufrichten und einem raumgreifenden Entfalten seines beherrschten Körpers genommen hat, steht er schließlich frontal und halb entblößt vor dem Publikum. Einen Teil des aufgenommenen Tapes hält er in der Hand und den anderen Teil des vorab den Raum definierenden Klebebands, das er mit dem Mund aufnahm, spuckt er aus.

Beim folgenden Solo von Carolina Fink wird sichtbar, wie sich Tanzerfahrung in Jahren und mit Inhalten in die Körperbewegungen einschreiben. Fink hat Musik- und Tanzpädagogik am Orff Institut in Salzburg studiert. „ICH ÜBER MICH. Limitierte Ausgabe“ heißt ihr Beitrag, der sich um Freiräume und deren Begrenzungen dreht. Sie lässt sich von ihrem Partner Andreas Paragioudakis begleiten. Ein gutes Team bilden die zwei Kunstschaffenden seit Jahren, nicht nur privat. Wer die Tänzerin kennt, sieht bei diesem Solo neue und sehr akzentuierte Bewegungen, die im Kontrast zu ihrem eleganten, sanft anmutenden Kleid stehen. Carolina Fink nutzt den ganzen Raum auf allen Ebenen und auch die Vielfalt der poetischen Musik. Sie verwendet einen Rollator als Bühnen- und Fortbewegungselement und zeigt was es heißt, auf grazile Art in Balance zu sein.

Das dritte Solo „Phoenix“ stammt von Fabienne Rohrer, die wie viele ihrer Kolleginnen Tanzpädagogik unterrichtet. Sie startet in der Mitte der Bühne und beschreibt mit raumgreifenden Bewegungen, die aus Laufen und Fallen bestehen, sehr bildlich einen Kreis. Ohne Requisiten, lediglich mit ihrem schwarzen Kleid und begleitet von einem starken Sound thematisiert sie Lebenssituationen, die an Grenzen bringen. Es ist die Kunst des Fallens, die Rohrer zeigt. In der reduzierten Bewegung lenkt sie den Blick der Zuschauenden immer wieder auf einzelne Körperteile, die sie eindrücklich und sehr humorvoll in Szene setzt.

Carina Huber macht mit ihrem Beitrag „Spuren“ selbige sichtbar und verwendet dafür eine Papierrolle, die sie diagonal auf der Bühne auslegt und mit bunten Farben bespielt. Huber, die über das Ballett den zeitgenössischen Tanz erreichte und in der Schweiz und in London ihre Ausbildung erhielt, wendet sich mit diesem Stück persönlichen Erlebnissen zu. Ihr performativer Ausdruck ist hier weniger von schönen und eleganten Bewegungen geprägt, er erinnert vielmehr an ein Statement, dem stampfende Schritte ein letztes Wort geben. Huber widmet sich besonders den Farben, die sie großzügig auf ihrem Körper verschmiert und lässt diese bei Drehungen auch das Publikum erreichen.

Nach einer Pause leitet Natalie Fend den zweiten Teil des Tanzabends ein. Sie stellt sich mit dem Rücken vor das Publikum und richtet den Blick auf die Leinwand, die ein Video mit Nahaufnahmen der Tänzerin projiziert. Das Bild in schwarz-weiß ist verwackelt, die Filmerin gibt sich selbst als Amateurin aus. Das Publikum wird so Zeuge einer Probensituation, die Natalie Fend – die den Film mit kleinsten Bewegungen kommentiert - in ihrem Schaffensprozess zeigt. Sie gibt sich auf radikale und gleichsam sehr humoristische Art genau den Fragen hin, die den Alltag des Kunstbetriebs beschreiben. „Künstlerin sein ist gut und recht, aber wenn Du keine Idee hast...“, gesteht sie im Interview im Dialekt und sorgt damit für den ersten herzlichen Lacher im Publikum. Kunst wird plötzlich nahbar und wenn Natalie Fend sich dann umdreht und ein Solo auf kleinstem Raum tanzt, dann merkt man, was in diesem Körper an Tanzlust und –vermögen vor sich geht. Das vermittelt sie, auch ohne ihr ganzes Vermögen zu präsentieren.

Thomas Geismayr ist wohl die Entdeckung des Jahres auf dem zeitgenössischen Tanzparkett Vorarlbergs. Der Dornbirner ist urbaner Tänzer und widmet sich dem Breakin´und B-Boying. Er hat sich zum Ziel gesetzt, den urbanen mit dem Bühnentanz zu verbinden. In „Flow“ zeigt er ganz authentisch, wie Tanz sein Leben bewegt und die Zielrichtung vorgibt. Persönliche Worte, am Anfang und am Ende akustisch eingespielt, bieten einen schlüssigen Rahmen, den Geismayr manchmal fast zärtlich tanzend, dann akrobatisch, einem schnelleren Tempo und immer dem Sound folgend ausfüllt. Die verfügbaren zehn Minuten nutzt er nicht ganz aus und gerade das tut seinem Solo gut, in dem er alles zu sagen und auszudrücken vermag.

Carmen Pratzner nennt ihren Beitrag schlicht „Solo“ und wird von Thomas Liesinger auf der Trompete live begleitet. Sie trägt einen schwarzen Anzug, der auch ihr Gesicht verhüllt und den Blick lediglich auf ihre Arme und Beine lenkt. Sie spielt mit dem Fokus auf entblößte Fragmente und lässt diese in verschiedenen Tempi und im Ebenenwechsel selbst sprechen. Die Entkoppelung vom Gesamtkörper beeinflusst die Wahrnehmung, wodurch die Musik zum fast konkurrierenden Spielpartner wird. Der gesichtslose Tanzpart scheint sich dem elegant zu entziehen und gewinnt damit letztlich an einer Kontur, die sich das betrachtende Auge der Zuschauenden erst erobern muss.

Mit „More“ beschließt Silvia Salzmann den Abend. Sie verwandelt die Bühne in ein Schlaraffenland aus weißen Requisiten. Das Bedürfnis nach immer mehr macht sie zum Ausgangspunkt ihres Kurzstücks, das vom ersten Moment an fesselt. Das Solo ist trotz seiner Kürze ein kleines Theaterstück, das Performance, Tanz, Stimme, Musik, Bühnenbild, dramaturgischen Aufbau und Höhepunkt bietet. Und gleichzeitig ein Bedürfnis nach mehr zurücklässt. Salzmann, die weniger solistisch als vielmehr im Kollektiv arbeitet, gleitet tanzend, springend und sich akrobatisch verrenkend durch die Szenerie, die aus Kugeln, Popcorn, Gläsern, Flaschen und schließlich sprudelndem Sekt besteht. Alles in weiß. Damit rundet sie den Abend ab, fängt ihn ein und macht die carte blanche zu einem Gefühl. Es hängt der süße Duft einer rauschenden Feier in der Luft, in der sich schließlich alle Nominierten die Hand geben und so den Bogen zum Netzwerk spannen.

Allein die Jury, die noch am selben Abend tagt und berät, welches Solo der Urheberin oder dem Urheber zum Sieg verhilft, ist nicht zu beneiden. Groß ist die Palette und die Vielfalt, eine Spannweite an Stilen und künstlerischer Erfahrung. Man fragt sich, nach welchen Kriterien hier beurteilt werden soll. Vielleicht klären das die TanzexpertInnen. Renate Graziadei ist gebürtige Vorarlbergerin und hat ihren Lebensmittelpunkt in Berlin. Dort leitet sie mit ihrem Partner das Künstlerkollektiv LaborGras und sie verfügt über die Kenntnis und Erfahrung einer internationalen Tätigkeit. Ein wenig kennt sie manche Tanzschaffende Vorarlbergs aus einem Fortbildungsprogramm von netzwerkTanz vor einigen Jahren. Auch Hiekyoung Blanz, Tänzerin und Choreografin aus Korea, die in Berlin aufwuchs und in Amsterdam studierte, kennt die Vorarlberger Szene etwas und verfügt nicht zuletzt durch ihre Arbeit als Coach über eine wertschätzende Art, den Tanz zu betrachten und einzuordnen. Giovanni Netzer, studierter Theologe und Theaterwissenschaftler, ist Gründer und Leiter des Origen-Festivals in Graubünden und dem Tanz sehr zugewandt. Außerdem sitzen Winfried Nussbaummüller, Leiter der Kulturabteilung des Landes Vorarlberg und Jasmin Ölz-Barnay, ORF Vorarlberg Kulturkoordinatorin in der Jury. Ein weiteres Jurymitglied, das die Tanzbedingungen hierzulande besser und aus eigener Erfahrung kennt, hätte der Zusammensetzung sicher gut getan.

Das Wissen um die Gewinnerin oder den Gewinner wird nun noch knappe drei Wochen zurückgehalten. Inzwischen darf man den Tänzerinnen und Tänzern dennoch die Daumen drücken und sie animieren, weiter zu machen in ihrem Tanzschaffen bis sie letztlich alle am 25. November im Casino Restaurant FALSTAFF in Bregenz gebührend gefeiert werden.