Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Peter Füssl · 05. Jun 2011 · Tanz

Sexuell aufgeladene Schneewittchen-Version als krönender Abschluss des Bregenzer Frühlings

Die Geschichte von Schneewittchen und der bösen Stiefmutter gehört seit der Veröffentlichung der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen vor ziemlich genau zweihundert Jahren zum Allgemeingut. Während bei den Gebrüdern Grimm die Sexualität als Triebfeder der Geschichte aber höchstens von erwachsenen LeserInnen zwischen den Zeilen erahnt werden kann, lässt Angelin Preljocaj in seinem 2008 uraufgeführten „Blanche Neige“ keinerlei Zweifel offen. Hier knistert es, nicht nur dank der extravaganten Kostümideen Jean Paul Gaultiers.

Stiefmutter als Latex-Domina

Bereits der erste furiose, von Blitz und Donner und wummerndem, hart an der Schmerzgrenze angesiedeltem Bassdröhnen begleitete Auftritt der Stiefmutter in einem schwarz-weiß-roten Latex-Dress, das auch aus dem Kleiderkasten der einstmals ebenfalls von Gaultier ausgestatteten Madonna stammen könnte, macht klar, was Preljocaj unter „Schneewittchen-Komplex“ versteht: diese Stiefmutter ist ein Vamp und wird ihren Status als „sexiest woman alive“ ganz sicher nicht freiwillig an ihre Stieftochter weitergeben. Die Katzen in ihrem finsteren Schloss unterstreichen noch diese triebhaft aufgeheizte Raubtierwelt. Erst ganz zum Schluss, am bitteren Ende, wird sie in ihren glühenden Pantoffeln einen ganz und gar nicht mehr erotischen Tanz aufführen.

Traumhafte Bilder

Aber nicht nur diese finsteren Bilder – allen voran natürlich das überdimensionale „Spieglein, Spieglein an der Wand“ mit seinen traumhaften Zeitlupensequenzen – werden sich in das Gedächtnis der Zuschauer einprägen. Auch die mitunter grotesk anmutenden Tänze des Hofstaates oder die Szene, in der die zu Soldaten mutierten Jäger statt Schneewittchen einen Hirsch töten, waren beeindruckend. Vor allem aber natürlich die sieben Zwerge, die Preljocaj an einer acht Meter hohen Steilwand ihre akrobatischen Fähigkeiten demonstrieren lässt– heitere Momente inmitten höchst dramatischer Bilder. Bühnenbildner Thierry Leproust und Lichtdesigner Patrick Riou tragen auf grandiose Weise dazu bei, die extravaganten Ideen Angelin Preljocajs  auf der Bühne zu verwirklichen, der permanent die Gothic-Rock-Welt der bösen Königin auf die idyllischen Bilder des lieblichen Schneewittchen prallen lässt.

Großartiger Pas de deux

Geschickt führt Angelin Preljocaj das Stück zum dramatischen Höhepunkt, inszeniert die berühmte Apfelszene als brutale Gewaltorgie, und lässt Schneewittchens tote Mutter nochmals spektakulär vom Himmel herunterschweben. In einem großartigen Pas de deux versucht der verzweifelte Prinz, Schneewittchen zum Leben zu erwecken, was letzten Endes – Happy-end muss natürlich sein – auch ohne sein direktes Zutun gelingt. Die großartigen tänzerischen Leistungen zur Musik von Gustav Mahler und den elektroakustischen Einschüben von 79D in Angelin Preljocajs epochaler „Schneewittchen“-Interpretation waren ein angemessenes Finale für diesen „Bregenzer Frühling“, der sein 25 Jahre-Jubliläum mit Top-Produktionen vor weitestgehend ausverkauften Häusern feierte.