Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Peter Füssl · 12. Jun 2017 · Tanz

Reflexionen zum Selbstoptimierungskult - Interview mit Chris Haring zu „Candy’s Camouflage“

Nach dem großartigen tanz ist Festival-Auftakt mit der englischen James Wilton Dance Company wird auch einer der wichtigsten heimischen Choreographen seine neueste Produktion am Dornbirner Spielboden präsentieren. Chris Haring/Liquid Loft garantieren seit vielen Jahren zuverlässig für Festival-Highlights und demonstrieren mit jeder Produktion aufs Neue, dass sie ihren exzellenten Ruf als international erfolgreichste Compagnie Österreichs zurecht genießen. Heuer präsentieren sie mit „Candy’s Camouflage“ den Abschluss ihrer von den frühen filmischen Werken Andy Warhols inspirierten „Imploding Portraits Inevitable“-Trilogie, wobei es inhaltlich und stilistisch einige Änderungen zu den beiden ersten Teilen „Shiny, shiny ...“ und „False Coloured Eyes“ gibt. Eine 70-minütige multimediale Performance steht ins Haus, die Kenner zu den besten Arbeiten des gleichermaßen unkonventionellen wie einfallsreichen Choreographen Chris Haring zählen.

Reduzierung auf Schwarzweiß und drei Protagonistinnen

 

Peter Füßl → Wieviel Warhol steckt denn in dieser Reihe, und geht es dabei eher um Atmosphärisches oder um Technisches?

Chris Haring → Es geht eher um Atmosphärisches. Wir haben die „Imploding Portraits Inevitable“-Serie zum Beispiel auf Warhols 1966 entstandenen Film „The Chelsea Girls“ aufgebaut, in dem ja trotz des Titels nicht nur Frauen vorkommen, sondern er zeigt zum Großteil in Schwarzweiß einfach Charaktere, die im Hotel leben. Das erinnert eine Spur an Film noir, aber nicht wirklich. Wir haben bei „Candy’s Camouflage“ von Anfang an versucht, uns dorthin vorzutasten und die Beamer-Farben immer weiter reduziert, bis sich eine Schwarzweiß-Atmosphäre ergeben hat. Soweit das Technische. Inhaltlich haben wir die Darsteller von ursprünglich sechs Personen auf die drei Frauen reduziert. Sie haben sich von den ursprünglichen Charakteren, die wir nachzustellen versuchten, immer weiter losgelöst, haben immer mehr ihre eigenen Geschichten verarbeitet und sind in ihrer eigenen Realität angekommen. 

Nur noch ein Drinnen, kein Außen mehr

 

Füßl → Aber „Candy’s Camouflage“ bezieht sich zumindest vom Titel her auf eine konkrete Person, nämlich auf Candy Darling. Sie war eine transsexuelle New Yorker Schauspielerin, die zuerst eine absolute Außenseiterin war und dann – als die Drag Queens Ende der 1960-er Jahre einen ersten Szene-Hype erfuhren – eine Zeitlang zu Warhols Superstar-Diven gehörte. Sie ist 1974 mit nur 29 Jahren gestorben. Was fasziniert Dich an dieser doch eher tragischen Persönlichkeit, weshalb beziehst Du Dich auf sie?

Haring → Wir haben uns zunächst eigentlich nur auf den Namen bezogen, sie ist als Figur eher selten vorgekommen. Aber sie stand irgendwie für Freiheit, für den Transgender-, den Queer-Gedanken, das war alles irgendwie in dieser Figur drinnen. Sie hat ja nicht wirklich lange die Möglichkeit gehabt, das auszuleben. Aber damals war sie schon eine der brutalsten, fortschrittlichsten Persönlichkeiten in dieser Szene. Sie war „in“, auch wenn das aufgebauscht worden ist. Interessanterweise hat sie dann doch sehr eigenständig agiert, und das haben wir als Vorlage genommen. Wir haben beschlossen, dass es keine Figur von außen mehr gibt, es gibt nur noch ein Drinnen. In „Candy’s Camouflage“ sind die Protagonistinnen selbständig, sie filmen sich auch selbst. Es ist ein in sich abgeschlossenes System, in das von außen eigentlich kaum mehr etwas eingreift. Es ist wie ein Live-Movie. Nicht nur die Darsteller wurden reduziert, sondern auch das Bühnenbild. Man geht mehr auf das Eigentliche zurück, es ist ein ruhigeres Stück als die anderen, dadurch aber auch viel konzentrierter. 

Selbstoptimierungskult

 

Füßl → Candy Darling steht einerseits für die Suche nach der eigenen Identität, andererseits aber auch für extreme Selbstdarstellung, sozusagen für die Entwicklung einer realen Person zu einer medialen Existenz. Geht es Dir um solche Dinge?

Haring → Wenn man das Stück selbst als ein in sich abgeschlossenes System sieht, dann spielen die drei Frauen unterschiedlichste Persönlichkeiten durch, verwandeln sich permanent und gehen aus unterschiedlichen Motivationen heraus in Bilder oder in Darstellungsoptionen hinein, die wir vielleicht sonst so nicht machen würden. Sie werden aber gleichzeitig jeweils auch von einer anderen Frau gefilmt. Man kann sie alle drei zusammen als eine Figur sehen, die sich immer wieder wandelt und selbst beobachtet, sich selbst darstellt und sich selbst optimiert. Oder als zwei Beobachterinnen, die auf die dritte Frau schauen. Oder als eine Beobachterin, die auf zwei Frauen schaut. Und sie zeigen sich auch immer wieder als Gesamtheit. Ich glaube, das reflektiert sehr stark diesen Selbstoptimierungskult von heute, den man besonders auch in den sozialen Medien findet.  

Füßl → Geht es also um das Spiel mit sogenannten Realitäten, mit gleichzeitiger Selbst- und Fremdwahrnehmung, um Klischees? 

Film noir – jeden Moment als wichtig erachten

 

Haring → Zu den Klischees: wenn man mit der Oberfläche spielt, kann man kaum in das vordringen, was drinnen eben sehr intensive Momente widerspiegelt. Deshalb finde ich zum Beispiel den Film noir schön, dessen Ära ja eigentlich schon zu Ende war, als „The Chelsea Girls“ entstanden ist. Das war sicher ein Vorläufer für dieses Spiel mit den Identitäten, hat es publik gemacht. Und es war wichtig, jeden Moment als wichtig zu erachten. Jede Phase, die man emotional durchläuft, ist von Bedeutung. Im Film noir ging es sehr stark um diese Sachen, wenn man zum Beispiel mit Voice-over gearbeitet oder alles in Schwarzweiß gehalten hat. Man hat mehr in das Gefühlsleben einer Person hineingeschaut, lange Einstellungen auf eine Person gemacht und hat eigentlich sehr choreographisch gedacht. 

Jede Show ist anders

 

Füßl → In „Candy’s Camouflage“ sind Tanz, Sound, Sprachelemente und audiovisuelle Technik eng miteinander verwoben. Die Tänzerinnen Stephanie Cumming, Katharina Meves und Karin Pauer bedienen gleichzeitig auch Kameras und Scheinwerfer. Die so gewonnenen Filmbilder werden wiederum ins Geschehen projiziert, nachdem sie technisch vielfältig aufbereitet wurden. Das klingt alles nach einem hohen Grad an Konzentration und Perfektion und extremen Anforderungen an die Akteure. Das erscheint alles durchkomponiert, ist da Improvisation noch möglich?

Haring → Jede Show ist anders, denn die Bilder wurden nicht durchkomponiert. Das System, das wir einsetzen, ist ein sehr einfaches. Es sind zwei Kameras auf der Bühne mit zwei Projektoren, die leicht überlappend sind, also immer wieder mit Feedback spielen. Bei der Einstellung der Kamera geht es oft um Zentimeter und vor allem auch um das richtige Timing. Das heißt, die Protagonistinnen müssen choreographisch nicht nur den Blick von außen lernen, also die Kamera zu führen, sondern gleichzeitig eben auch vor der Kamera agieren. Das war eine große Herausforderung, aber da es schon der dritte Teil ist, haben sie mittlerweile ein großes Know-how entwickelt. Das Ergebnis ist insofern immer anders, weil die Technik, die sie einsetzen, live passiert. Der Mensch bestimmt noch immer in jedem Moment, wo und wie und was das Publikum sieht. Es gibt immer wieder Überraschungen, die haben ihr Improvisationsspielfeld gut im Griff. 

Nicht bewusst witzig angelegt

 

Füßl → In Deinen Arbeiten liegen Tragik und Komik meistens eng beieinander. Ist das in dieser Produktion, in der es auch um das Aufzeigen und Hinterfragen von Frauenbildern quer durch alle Epochen und um das Vermischen von Wirklichkeitsebenen geht, auch so?

Haring → Tragik und Komik liegen prinzipiell zusammen. Ich habe versucht, mich so weit wie möglich herauszuhalten, die Tänzerinnen zu unterstützen bei dem, was sie da suchen und finden. Vielleicht technisch kleine Hinweise geben, Dinge, die man halt von außen sieht. Ich fühle mich weniger als Leiter dieser Produktion, sondern eher als jemand, der mithilft, alles irgendwie gut zusammenzubauen, damit es ein gutes dramaturgisches Timing hat. In diesem Stück sind sehr viele Szenen einfach aus den Positionen der Tänzerinnen, also aus ihnen selbst heraus entstanden, daraus, wie sie mit bestimmten Themen umgehen.

Füßl → Die echte Candy Darling fühlte sich zuletzt ja nur noch gelangweilt und sie organisierte deshalb schon mal ihr eigenes Begräbnis, inklusive Einladungslisten etc. Das klingt irgendwie tragisch und traurig, hat aber irgendwie auch Witz.

Haring → Dazu kann ich nur „ja“ sagen. Der Witz funktioniert vermutlich so, dass es ab dem Moment, wo man auf die Bühne geht, sowieso schon witzig ist. Wir versuchen halt, so realistisch wie möglich zu arbeiten, aber im Endeffekt springst du quasi immer in eine Figur hinein. Die drei Performerinnen machen das einfach sehr gut, der Witz entsteht sozusagen aus Situationen heraus. Es ist nicht bewusst witzig angelegt, sondern es entstehen halt vielleicht peinliche Momente oder intime Momente, die man oft in Humor auflösen kann. Ich liebe Humor auf der Bühne – manchmal funktioniert er, manchmal nicht. 

Neue Produktion „Foreign Tongues“

 

Füßl → Du hast somit die 2014 gestartete Trilogie abgeschlossen, wie geht es nun weiter?

Haring → Wir arbeiten derzeit an einer Produktion, die sich „Foreign Tongues“ nennt und bei der wir mit Minderheitensprachen – das klingt ja irgendwie herabwürdigend, ist es aber nicht – arbeiten. Wir versuchen in ganz Europa die Sprache von Leuten aufzunehmen, die in jener Nation, in der sie leben, als Minderheit eingestuft werden. Das Interessante daran ist, dass wir hauptsächlich tonal mit diesen Sprachen arbeiten und versuchen, das performativ umzusetzen. Wir haben zum Beispiel burgenländische Roma aufgenommen, Südfranzosen, die Okzitanisch sprechen, in Dublin Leute, die Gälisch sprechen oder in Deutschland Sorbisch. In Österreich haben wir auch noch Windisch dabei. Das ist ein Ongoing-Project. Morgen zum Beispiel sind wir in Vilnius, da wird der Pool um Litauisch erweitert. Wir werden die Sprachen nicht manipulieren, wie wir das sonst in unseren Stücken tun, sondern wir arbeiten mit Rhythmik, Dynamik, Pausen und Artikulation dieser Sprachen. Wir bauen daraus ein tonales Spektakel, eine Art Vielsprachensymphonie zusammen, die beliebig erweiterbar ist. Im Februar haben wir erstmals versucht, Szenen zu einem Stück zusammenzubauen. Unser Ziel ist es aber, das alles zu den Menschen hinauszubringen, deshalb arbeiten wir an einer Outside-Performance. Das ist sozusagen unser Beitrag zum derzeitigen politischen Geschehen, denn in dem Moment, wo du mit Sprachen arbeitest, ist das immer hochpolitisch.

tanz ist – Internationales Tanzfestival
Spielboden Dornbirn
Fr, 16./Sa, 17.6., 20.30 Uhr
Liquid Loft/Chris Haring (A): „Candy’s Camouflage“

www.tanzist.at
www.spielboden.at