Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Peter Füssl · 12. Jun 2016 · Tanz

Selbstdarstellungsorgien auf faszinierende Weise hinterfragt - Liquid Loft und Chris Haring begeistern zum Abschluss des tanz ist Festivals am Spielboden

Der österreichische Top-Choreograf Chris Haring zählt zu den Langzeit-Wegbegleitern des von Günter Marinelli konzipierten tanz ist Festivals. Mit seiner 2005 gegründeten Compagnie Liquid Loft – Österreichs vielfach ausgezeichnetem, internationalen Aushängeschild in Sachen zeitgenössischer Tanz – sorgte er am Dornbirner Spielboden schon für viele höchst außergewöhnliche, traumhafte, in jeglicher Hinsicht begeisternde Tanzabende: von „Running Sushi“ über „Talking Head“ bis zur „Perfect Garden“-Serie. So auch heuer mit der neuesten Produktion „False Colored Eyes“, einer gleichermaßen witzigen wie bitterbösen Abrechnung mit den in den neuen Medien abgefeierten Selbstdarstellungsorgien.

Zwanghafte Selbstinszenierung


Stephanie Cumming, Katharina Meves, Anna Maria Nowak, Karin Pauer, Luke Baio und Arttu Palmio präsentieren sich und die entlegensten Teile ihres Körpers in einer vielschichtigen, siebzigminütigen Selbstdarstellungsshow, deren Handlungsstränge sich auf verschiedensten Deutungsebenen überkreuzen und durchdringen. Mit den Akteuren begibt man sich auf die Suche nach der perfekten Inszenierung, die Schein über Sein dominieren lässt, wobei zwanghaft zur Schau gestellte Coolness latente Unsicherheit nur ungenügend übertüncht. Sich im Entblößen zu verstecken, zutiefst Intimes so radikal an die Öffentlichkeit zu zerren, dass es zur Bedeutungslosigkeit verkommt, das Ego solange zu optimieren, bis es Allerweltsformat hat, das sind nur einige der Vorstellungen, die man zu den eindrucksvollen Bildern dieser Performance entwickeln kann. Egomanie und Verzweiflung gehen Hand in Hand, wenn es um die zwanghafte Selbstinszenierung zwecks lückenloser Dauerpräsenz in den sozialen Medien geht. Wenn man schon alles gezeigt hat, bleibt nur noch die Präsentation des Gaumenzäpfchens.

Mehrere Darstellungsebenen und sich permanent ändernde Perspektiven

 

Die realen Körper der fünf mit äußerster Präzision und großer Ausdrucksstärke agierenden Akteure stellen die unmittelbare Ebene der Performance dar, sie werden auch schattenspielartig an die rechte Bühnenwand projiziert. Gleichzeitig wird die Performance mit zwei Kameras gefilmt und die Live-Projektion mit einer Vielzahl an technischen Kunstgriffen manipuliert und in überdimensionaler Größe an die Rückwand geworfen – aufgesplittet, multipliziert, leicht zeitverzögert, rückblendenartig montiert, in extremen, manchmal gnadenlosen Close-ups verfremdet, zu Phantasie-Objekten wie einem tanzenden Zungenpaar überblendet und zusammengeschnitten. Ständig werden Scheinwerfer und Kameras in neue Positionen gebracht, und das mitreißende Spiel wird um neue Perspektiven erweitert – ein unendlicher Strom an verwirrenden Eindrücken und verblüffenden Transformationen, bis sich die Grenzen zwischen Selbstdarstellung und Selbstentblößung nicht mehr ausmachen lassen. Narzissmus und Exhibitionismus auf der einen Seite, Sensationsgeilheit und Voyeurismus auf der anderen. Liquid Loft bringt dies freilich ohne zu moralisieren, dafür mit witzigen Einfällen gespickt und einer ordentlichen Portion feiner Ironie gewürzt auf die Bühne.

Andy Warhol als Inspirationsquelle

 

Chris Haring hat sich zu „False Colored Eyes“, dem Mittelstück einer Trilogie unter dem Titel „Imploding Portraits Inevitable“ von den „Screen Tests“, mit denen Andy Warhol Mitte der 60er-Jahre mehr oder weniger bekannten Celebrities zu ihren „15 minutes of fame“ verholfen hat, inspirieren lassen. Angesichts des begeisterten Applauses und der überschwänglichen Publikumsreaktionen darf man darauf hoffen, dass auch Teil drei dieser Aufsehen erregenden Werkserie bei einem künftigen tanz ist Festivals zu sehen sein wird.