Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Peter Füssl · 09. Jun 2017 · Tanz

Kraftstrotzend, poetisch und tiefgründig – James Wilton Dance begeisterte bei der Österreichpremiere von „Leviathan“ am Spielboden

Vor zwei Jahren rockte James Wiltons Dance Company den Dornbirner Spielboden mit „Last Man Standing“ und versetzte das regelmäßig mit außerordentlichen Tanzereignissen verwöhnte tanz ist-Publikum in ungläubiges Staunen. Diese Kraft, Schnelligkeit und exzellente Körperbeherrschung wirkten atemberaubend. „Aber lässt sich das noch toppen?“, fragte man sich vor der österreichischen Erstaufführung des von Herman Melvilles Kultroman „Moby Dick“ inspirierten Tanzstückes „Leviathan“, mit dem das diesjährige Festival spektakulär eröffnet wurde. Schier nicht enden wollender Applaus nach grandiosen 80 Minuten gab eine eindeutige Antwort: „Und wie!“

Mensch versus Natur

Eine Gestalt liegt auf dem Rücken und stößt aus ihrem Mund eine Fontäne in die Höhe. Ist es der von Melville mit vielschichtigem Symbolgehalt aufgeladene, sagenumwobenen „Weiße Wal“ oder – dem Titel entsprechend – das auf uralte Mythen zurückgehende, im Alten Testament eindrucksvoll geschilderte Seeungeheuer Leviathan, das unter anderem für die vernichtende Kraft der Natur oder des nur von Gott zu bezwingenden Bösen steht? Bevor diese Frage beantwortet wird, müssen erst einmal fünf Männer in ungemein dynamischen, zu peitschenden Elektronik-Sounds ausgetragenen, martialischen Machtkämpfen die Hackordnung bestimmen. Der von James Wilton verkörperte Kapitän Ahab hat seine immer wieder aufmuckende Crew bald fest im Griff, was sich in kraftvoll inszenierten Ritualen von Dominanz und Unterwerfung ausdrückt.

Zwei kurze Blendlichter später – sie markieren jeweils einen Kapitelübergang – durchpflügt der Weiße Wal in unglaublicher Ruhe und Eleganz die Weite des Meeres – ein archaisch anmutendes, die unbändige Kraft der Natur sinnlich sichtbar machendes Bild, das in einem wunderbaren Kontrast zum vorangegangenen Menschenspektakel steht. Man scheint das Wasser förmlich zu spüren, obwohl der Tanzboden staubtrocken ist. Da der Wal von der großartigen Tänzerin Sarah Jane Taylor, also der einzigen Frau auf der Bühne, verkörpert wird, lässt sich das folgende Geschehen – in Übereinstimmung mit dem uralten „Leviathan“-Mythos – auch als Mann-Frau-Thematik interpretieren. Ein zusätzliches Interpretationslevel, wer seinen Spaß daran hat. 

Manische Besessenheit

Aber nicht der Wal ist das Monster, sondern der von seiner unbezähmbaren Sucht nach Bezwingung und Unterwerfung getriebene Mensch, der schließlich an seiner Besessenheit zerbricht. Ahab/Wilton macht das in einem eindrucksvollen, sich mehrmals wiederholenden Tableau sichtbar: die Tänzer formieren sich in einer Linie zum bekannten Sinnbild für die evolutionäre Entwicklung des Menschen, an deren Ende in aufrechter Position Ahab steht, der sich unvermittelt umdreht und seine Vorfahren – also die Geschichte seiner Herkunft –  mit einer Gewehrsalve niedermäht. Mit dicken Tauen werden kunstvoll Netze ausgelegt, in denen sich aber immer mehr die Menschen anstelle des gejagten Wales verfangen. Für den getriebenen Ahab werden sie schließlich zu Fallstricken, in denen er sich heillos verfängt, bis er im zweiten Teil des Stückes nur noch einsam und orientierungslos durch das Meer irrt, in das mittlerweile auch seine ehemaligen Gefährten – von Michael Kelland, Harlan Rust, Joshua James Smith und Samuel Baxter getanzt – absorbiert worden sind. 

Effektvolles Licht, wirkungsmächtiger Sound

Lichtdesigner Alan Dawson gelingt es, angesichts des leergeräumten Tanzbodens und der spärlichen Requisiten mit einfachsten Mitteln unglaublich wirkungsvolle Stimmungen zu zaubern. Dasselbe lässt sich vom zwischen verträumten Electronics und harten Riffs pendelnden Soundtrack von Lunatic Soul, dem Solo-Projekt des polnischen Musikers und Komponisten Mariusz Duda behaupten, der als Sänger und Bassist der Progressive-Metal-Band Riverside bekannt geworden ist. Seine Klänge peitschen die Ahab-Handlung kraftvoll-dynamisch voran, versetzen aber genauso stimmig die wunderbare Welt des Weißen Wals in ätherische Dimensionen.

Die Bilder von Getriebenheit und Verfolgung, von Macht und Ohnmacht, von brachialer Gewalt, Unterwerfung und erhabener Schönheit werden in der für James Wilton typischen Mischung aus zeitgenössischem Tanz, Breakdance, verschiedenen Kampfkunststilen und akrobatischen Elementen realisiert. Phasenweise scheinen die wirbelnden, in gewagten Sprüngen und Drehungen sich windenden Körper aller Beteiligten sich den Gesetzen der Schwerkraft zu entziehen. Man kann sich nur noch mit vor Staunen geöffnetem Mund der visuellen Flut hingeben und vom Dargebotenen gefangen nehmen lassen.

Tobender, nicht endenden wollender Schlussapplaus war die logische Konsequenz dieses Abends. Dass aber nicht wenige der begeisterten Tanz-Fans spontan beschlossen, auch die zweite Aufführung dieses Stückes besuchen zu wollen, macht eindrucksvoll klar, wie außerordentlich dieses Tanzereignis ist. Das hat absoluten Seltenheitswert! 

Weitere Termine: tanz ist – Internationales Tanzfestival  

Sa, 10.6., 20.30 Uhr
James Wilton Dance: „Leviathan“ (ÖE)

So, 11.6., 17 Uhr
Showing der Trainingsklasse James Wilton

Di, 13.6., 20 Uhr
„Moby Dick"
Film mit Gregory Peck als Kapitän Ahab, Regie: John Huston (USA 1956)

Mi, 14.6., 20.30 Uhr
CAT Jimenez (PH/A): „YP_Hand“
& Anni Kaila (FIN): „In The Wind“
Doppelabend mit zwei Soli von Elio Geravasi/Tanz Company Gervasi

Fr, 16./Sa, 17.6., 20.30 Uhr
Liquid Loft/Chris Haring (A): „Candy’s Camouflage“

www.tanzist.at
www.spielboden.at