Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Silvia Thurner · 20. Jän 2017 · Musik

Überbordende musikalische Kreativität – Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, die Wiener Symphoniker und der Dirigent Teodor Currentzis begeisterten und regten zum Nachdenken an

Ein Konzert der Sonderklasse versprach das diesjährige Gastspiel mit den Wiener Symphonikern bei den Bregenzer Meisterkonzerten zu werden. Angekündigt waren die allseits geschätzte Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der Dirigent Teodor Currentzis, der international für Furore sorgt. Diese beiden Musiker haben etwas zu sagen, darin besteht kein Zweifel. Ausgefallen wirkte insbesondere die Werkdeutung des Violinkonzertes von Peter I. Tschaikowsky. Eine spannungsgeladene Interpretation stellten die Wiener Symphoniker auch von Tschaikowskys vierter Symphonie in den Raum des Bregenzer Festspielhauses. Doch trotz der Begeisterung blieben einige Vorbehalte oder zumindest Überlegungen zurück, ob diese Art der Herangehensweise an traditionelle Orchesterliteratur tatsächlich neue Aspekte beinhaltet oder doch als eher zeitgeistiger Gag zu beurteilen ist.

Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja besticht bei jedem ihrer Auftritte durch ihre Natürlichkeit, ihre atemberaubende Technik und ihren außergewöhnlichen Zugang zur Musik. Ganz mit dem Instrument verbunden, spielte sie in Tschaikowskys Violinkonzert jede einzelne musikalische Phrase mit Genuss und höchst virtuos aus. Die Vielfalt ihrer Tongebung und ihre Art der Bogenführung bewirkten einen ungemein spannenden musikalischen Fluss. Inspirierend und mit viel Humor forderte sie die Orchestermusikerinnen und –musiker heraus und beseelte die Musik mit einer atemberaubenden Pianissimokultur, die selbst den großen Orchesterapparat wie ein feingliedriges Kammerensemble wirken ließ. Die Gestik der Solistin bot auch viel fürs Auge, so dass die Musik auch mit einer optischen Komponente zum Leben erweckt wurde.

Teodor Currentzis stand der Solistin um nichts nach. Beide waren einer Meinung und lieferten sich originelle musikalische Wechselspiele mit oft spontan wirkenden Pointen. Eine große Leistung vollbrachten dabei die Wiener Symphoniker, denn sie ließen sich auf das Spiel voll und ganz ein und wirkten dabei ziemlich flexibel.

Widersprüchliche Gefühle

So großem Lob und Zustimmung steht jedoch ein schwer zu beschreibendes Gefühl gegenüber. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob ein derart pointierter Zugang der Musik von Peter I. Tschaikowsky entspricht. Die Tempogestaltung war sehr frei, mit wahnwitzigen Steigerungen und Beschleunigungen, teilweise ziemlich überzogenen Artikulationen und dynamischen Forcierungen. So nahm die Interpretation von Patricia Kopatchinskaja auch kabarettistische Züge an. Darüber hinaus agierte das Orchester in einem ‚abgeschlankten’ Klanggewand. Dem romantischen Geist, der Tschaikowskys Musik nun einmal innewohnt, kam dieser Interpretationsansatz wenig entgegen. Die Musiker machten sich die Komposition zueigen. Mit ihrer Werkdeutung stellten sie sich nicht in den Dienst der Musik, sondern setzten sich mit ihrer teilweise extravaganten Spielart in Szene. Wer diesem Zugang amüsiert folgen konnte, erlebte ein großes musikalisches Vergnügen. Wer jedoch auch an eine Art Werktreue dachte, konnte dieser Interpretation nur mit Vorbehalten zustimmen.

Für das Neue einstehen

Als ausgewiesene Liebhaberin zeitgenössischer Musik wünschte ich mir, dass die exzellente Patricia Kopatchinskaja und der ausgezeichnete Teodor Currentzis ihre musikalischen Qualitäten in für sie maßgeschneiderte neue Kompositionen einbringen. Das wäre ein Fest. Dass beide Künstler ein großes Naheverhältnis zur Musik der Gegenwart haben, haben sie bereits vielerorts unter Beweis gestellt. Patricia Kopatchinskaja sprach dies sogar an, als sie die „Hommage à Tchaikovsky“ von György Kurtag am Klavier darbot. Die mit Handschuhen gespielten Cluster und glissandierenden Klangkaskaden sprachen für sich. Aufmunternd wirkte auch die zweite Zugabe von Darius Milhaud, die der Klarinettist Gerald Pachinger und Patricia Kopatchinskaja miteinander darboten.

Interpretationsvergleiche

Interessant war auch der zweite Teil des Abends, denn hier war der musikalische Zugang von Teodor Currentzis zu Peter I. Tschaikowsky unmittelbar nachvollziehbar. Im Jahr 2010 gastierte der griechische Dirigent zum ersten Mal in Bregenz. Damals musizierte er mit seinem Orchester „Musica Aeterna Orchestra“, war noch unbekannt und wurde mit Jubelstürmen gefeiert. Inzwischen ist der unkonventionelle Dirigent mit seiner ausladenden Gestik, seinen spannenden interpretatorischen Zugängen und unkonventionellen musikalischen Ansichten in aller Munde.
Interpretationsvergleiche der vierten Symphonie von Tschaikowsky waren leicht möglich, denn innerhalb weniger Wochen war genau dieses Werk drei Mal in Vorarlberg zu hören. In bester Erinnerung ist noch die berührende Interpretation, die das Symphonieorchester Vorarlberg vor wenigen Wochen spielte.

Dramatisch und emotionsgeladen

Teodor Currentzis und die Wiener Symphoniker boten vor allem im ersten und im zweiten Satz eine spannende Werkdeutung. Die großen Konflikte, die der Komponist in diesem Werk musikalisch auslotete, kristallisierten die Musiker hervorragend heraus. Spannungsgeladen wirkten die melodisch-thematischen Kräfte gegeneinander. Leidenschaftliche Passagen wurden von ‚aufdringlichen’ Floskeln gestört, das „Schicksalsthema“ mit großer psychologischer Dramatik immer wieder dazwischen geschaltet. Das Gespür für den dramatischen Bogen und den Widerstreit der Kräfte bewirkte eine große Sogkraft. Besonders in Erinnerung blieben unter anderem die chromatisch vielgestaltig sinkenden Linien im Eröffnungssatz. Beeindruckend kam der Erzählduktus im liedhaften zweiten Teil zum Ausdruck, schön ausbalanciert stellten die Musiker den luftigen dritten Satz in den Raum. Insbesondere im Finale zeigte sich, dass die Emotionalität des Dirigenten und des Orchesters nicht ganz kongruent war. Leidenschaftlich bewegt, die ausdrucksstarken Hände sowie die langen Arme vibrierend und feingliedrig im Einsatz, steigerte sich der emotionsgeladene Teodor Currentzis in die Musik hinein. Durchaus gefühlsbetont, aber nicht mit der gleichen Empathie agierten die Wiener Symphoniker. So entstand eine Werkdeutung, die viel Eindruck machte, jedoch nicht die erhoffte Euphorie auslöste.
Dass als Zugabe nach Tschaikowskys existentialistischem Werk noch der „Trepak“ aus dem „Nussknacker“ herhalten musste, relativierte den Gesamteindruck zusätzlich.