Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Fritz Jurmann · 06. Okt 2018 · Musik

„Romeo und Julia“ im Musiktheater Götzis: Schöner stirbt es sich nirgends

Absolut bemerkenswert an dieser aktuellen Produktion des Musiktheaters Vorarlberg ist zunächst die Risikofreude, mit der das bekannt engagierte Team um Intendant Nikolaus Netzer und Präsidentin Margit Hinterholzer heuer ins Rennen geht. Einem Publikum, das Oper wohl oft eher vom Weghören kennt und das die letzten Jahre gängige Blockbuster wie „Die Csardasfürstin“, „Evita“ oder zuletzt „Jesus Christ Superstar“ bevorzugt hat, wurde diesmal eine unbekannte Belcanto-Oper vorgesetzt, noch dazu mit einem unaussprechlichen Titel. Auch wenn klein im Untertitel steht, dass es dabei um die Geschichte von Romeo und Julia geht – wer hat sich schon sein Schulwissen über die „Capulets“ und die „Montagues“ bis heute bewahrt, zwei alte Adelsgeschlechter aus der italienischen Renaissance?

Konzept ist aufgegangen

So ist es dem Rezensenten eine wirkliche Freude davon zu berichten, dass dieses mutige Konzept mit Vincenzo Bellinis Oper „I Capuleti e i Montecchi“ gleich bei der Premiere am Freitagabend in der ausverkauften Götzner Kulturbühne AmBach aufgegangen ist und dabei wohl manchem Zuhörer und Zuseher auch ein Licht – nämlich, welche Schönheiten und Besonderheiten in der auch bei uns recht selten gepflegten und nur mehr von wenigen beherrschten großen Kunst des Belcanto  (wörtlich übersetzt: „Schöngesang“) stecken.

Die Darstellerinnen der beiden Hauptpartien gehören zu dieser seltenen Spezies, der Vorarlberger Mezzo Nina Maria Edelmann-Plangg und die deutsche Sopranistin Vera Schoenenberg, die in einem wahren Koloraturmarathon all das mit brillanter Selbstverständlichkeit und auf heutigem Niveau aktualisieren, was der Komponist vor bald 200 Jahren den damals meist übergewichtigen Primadonnen seiner Zeit in die geläufigen Gurgeln geschrieben hat. Getragen werden sie von einem in sechswöchiger Probenarbeit perfekt einstudierten Ensemble mit weiteren Solisten, mit Chor und Orchester unter dem kundigen Dirigat des Intendanten und einer stimmigen Regie- und Ausstattungsarbeit von Norbert Mladek. Die Stringenz der Handlung und die hohe Qualität der Aufführung lassen auch in knapp drei Stunden keine Langeweile aufkommen und münden zwangsläufig in Jubel und Standing Ovations.

Berühmteste Liebesgeschichte der Welt

Bellini hat in seiner Oper 1830 die „berühmteste Liebesgeschichte der Welt“, die bis heute vielfach die Vorlage für Opern, Ballette und Filme bildet, in einer speziellen, von der bekannten Shakespeare-Fassung in wesentlichen Teilen abweichenden Version des Librettisten Felice Romano vertont, die ihrerseits wieder auf eine Novelle von Matteo Bandello zurückgeht. Beide haben gemeinsame Wurzeln. Da ist nun doch einiges an Nebenhandlungen gestrafft zugunsten einer Fokussierung auf das Liebespaar aus den beiden verfeindeten Adelshäusern, vor allem auf dessen Gewissenskonflikt zwischen familiärer Pflicht und ihrer großen Liebe. Nach der bekannten Verkettung unglücklicher Umstände und Missverständnisse, nach letzten, schmachtend gesungenen Liebesbekenntnissen erleidet es gemeinsam den Tod, als spätes Mahnmal gegen Gewalt und Krieg und als Appell für den Frieden. Schöner, berührender stirbt es sich nirgends.

Norbert Mladek, dem man hier bereits ein respektables „Land des Lächelns“ (2010) zu verdanken hat, baute unter den bekannt begrenzten szenischen Möglichkeiten des Hauses eine trotz der Enge der Bühne relativ filigran wirkende Szene aus mobilen gotischen Fenstersymbolen. Sie bilden durch geschickte Umgruppierung und Lichteffekte (Martin Beck) die verschiedenen Räume, bis hin zur Gruft, in der zuletzt Julia als Scheintote im Schneewittchen-Sarg ihrer Auferstehung harrt. Mladeks Personenführung ist ebenso knapp wie einleuchtend, da ist keine Bewegung zu viel oder zu wenig, umso stärker entfalten sich die gezeigten Emotionen – vor allem über den Gesang.

Viel Arbeit für fünfköpfiges Profi-Ensemble

Und da wird man an diesem Abend überreich beschenkt von einem fünfköpfigen Profi-Ensemble, für das es in diesem unbekannten Werk durchwegs Rollendebüts mit kompletten Neueinstudierungen zu bewältigen gab. Da ist Vera Schoenenberg als Julia, die Gattin des Dirigenten, die hier zuletzt in ihrer bevorzugten Partie als Verdis „Traviata“ zu sehen war. Sie besitzt gerade im Belcanto-Fach hörbar eine fundierte Fachausbildung und ist heute eine lebenslang erfahrene Bühnenpersönlichkeit, eine große Diva, die es hier in ihrer Erscheinung im langen schneeweißen Kleid aber auch versteht, das Mädchenhafte ihrer Figur zu vermitteln. Ihre atemberaubenden Koloraturen mit stimmlichen Verzierungen und Trillern hat sie im kleinen Finger und setzt sie gekonnt ein, zwischen wunderbarer Pianokultur und scharfkantigen Attacken, mit strahlender Höhe und starker Ausdruckskraft.

Neben solchen Vorzügen kann auch die junge Nina Maria Edelmann-Plangg durchaus bestehen. Die gebürtige Vorarlbergerin ist verheiratet mit dem Bariton Paul Armin Edelmann, den man als Papageno in der Pountney-„Zauberflöte“ der Bregenzer Festspiele in bester Erinnerung hat. In ihrer Hosenrolle als Romeo zeigt sie durchaus männliche Züge, kräftigen Durchgriff und überzeugt mit ihrem Mezzo unangestrengt und in einem wunderbar klingenden, breiten Spektrum volltönend bis in tiefe Register. Auch eine gemeinsame Bettszene gerät nie zur Peinlichkeit, in ihren in einschmeichelnden Terzen geführten leidenschaftlichen Duetten sind die beiden Damen als Liebespaar unübertroffen. Und Edelmann-Plangg ist für die Vorarlberger Musikszene eine echte (Wieder-)Entdeckung, die eigentlich Folgen haben sollte.

An ihrer Seite agieren stimmlich und darstellerisch perfekt drei bewährte Routiniers der Opernbühne. Der koreanische Bass Martin Js. Ohu macht als Julias bis zuletzt uneinsichtiger Vater Capellio gute Figur, der aus Seoul stammende Byoung-Nam Stefano Hwang beeindruckt als Rivale Tebaldo mit seinem metallisch durchschlagskräftigen Tenor, der Tiroler Bariton Günther Strahlegger verleiht seiner Partie als dem Liebespaar vertrauter Arzt Lorenzo eine gewisse Zwielichtigkeit.

Chor schlägt sich tapfer

Der Chor hat in dieser Oper kommentierend und als wichtiges Handlungselement große Aufgaben zu bewältigen. Als einzige Amateurgruppe in dieser sonst durchwegs professionell besetzten Produktion schlägt sich die von Darina Naneva-Ivov einstudierte Truppe tapfer, wenn man sich vor allem am Beginn gegen das klangvoll aufspielende Orchester auch manchmal etwas mehr Durchschlagskraft und Volumen gewünscht hätte. Das musikalische Zentrum bildet mit einem Übermaß an Erfahrung, Einsicht, Rücksicht und Spürsinn für gut abgemischte Klänge Intendant Nikolaus Netzer am Pult. Es ist unglaublich, welch elegantes Brio, welch sprühende Italianità er in Bellinis süffigen Melodien seinem großteils mit ausgebufften SOV-Musikern besetzten Orchester zu entlocken vermag, das auch mit vielen solistisch sauberen Aufgaben auftrumpft. In ihrer Begeisterung kann Netzer seine Leute lautstärkemäßig freilich oft kaum mehr zügeln, was die Sänger wiederum zu Höchstleistungen animiert.

Zum Schluss ein dickes Kompliment für dieses eingeschworene mtvo-Team mit seiner unermüdlichen Präsidentin: Da ist den ganzen Abend über bei jedem/r Einzelnen eine überschäumende Begeisterung für die Sache, eine hochgradige Motivation spürbar, die oft fast bis zur Selbstaufgabe reicht und von der Bühne und dem Orchestergraben in den Saal überschwappt und mitreißt. Dem Götzner Publikum noch ins Stammbuch geschrieben: Eine Oper beginnt mit dem ersten Ton im Orchestergraben, und es ist eine hier seit Jahren offenbar nicht auszurottende Unsitte, dass auch diesmal noch während der wunderbaren Ouvertüre munter drauflos geschwätzt wird, bis sich der Vorhang öffnet.  

„I Capuleti e i Montecchi“, Oper von Vincenzo Bellini
Weitere Vorstellungen:
So, 7. / Mi, 10. / Sa, 13. Oktober, jeweils 19 Uhr, Kulturbühne AmBach, Götzis
Mo, 15. Oktober, 20 Uhr, Reichshofsaal Lustenau, halbszenisches Gastspiel
Spieldauer: knapp drei Stunden, eine Pause