Uraufführung des Stückes „Stromberger oder Bilder von allem“ im Vorarlberger Landestheater (Foto: Anja Köhler)
Fritz Jurmann · 14. Okt 2017 · Musik

Jesus am Kreuz, Herodes in der Badewanne – Götzner „Jesus Christ Superstar“ als umwerfend aktuell aufgepeppte Rockoper

Unglaublich, welches künstlerische Potenzial da in dieser hoch motivierten Truppe des „Musiktheaters Vorarlberg“ schlummert. Da brauchen nur Kenner und Könner wie die hier mit ihrem „Don Giovanni“ oder der „Evita“ vor drei Jahren unentbehrlich gewordene deutsche Regisseurin Barbara Schöne und der seit zehn Jahren amtierende Intendant Nikolaus Netzer als musikalischer Leiter zu kommen – schon entsteht auch aus einem schon etwas angejahrten Stück wie der Rockoper „Jesus Christ Superstar“ auf der Götzner Kulturbühne AmBach ein mit den politischen Problemen unserer Zeit aufgepepptes, berührendes und dabei auch witziges Musiktheater. Die mit Spannung erwartete Premiere wurde am Freitag vor ausverkauftem Haus ausgiebig und herzlich gefeiert. Das sollte man gesehen haben!

Jesus als Rockstar auf der Bühne

Es war eigentlich ganz einfach und anfangs der siebziger Jahre doch auch recht mutig, was sich der damals noch völlig unbekannte amerikanische Komponist Andrew Lloyd Webber und sein Autor Tim Rice da ausgedacht haben: die Bibelerzählung der letzten sieben Tage im Leben Jesu mit seiner kompletten Leidensgeschichte, die man aus den kirchlichen Feiern in der Karwoche kennt, als Musical zu verarbeiten. Jesus – what? Ja – „Jesus Christ Superstar“, der Sohn Gottes mit seinen Verheißungen vom Reich Gottes wird auf der Bühne zu dem von seinen Jüngern stürmisch gefeierten Rockstar, auch zum Revolutionär. Dennoch blieben Blasphemie-Vorwürfe damals in der Minderzahl, das Werk wurde sogar in Radio Vatikan gespielt.

Nach über 40 Jahren ist das heute alles anders, viel offener, unverkrampfter. Die Katholische Kirche Vorarlberg hat sogar die Patronanz über die Götzner Produktion übernommen, Bischof Benno schickt im Abendprogramm ein paar Gedanken voraus, lässt durch die rührige Präsidentin Margit Hinterholzer bei ihrer traditionellen Einleitung vor dem Vorhang grüßen und wird eine der nächsten Vorstellungen auch persönlich besuchen. So ändern sich die Zeiten und damit auch „Jesus Christ Superstar“, hinter dem man beim „mtvo“ schon länger her war, aber erst jetzt die Rechte bekommen hat. Nun bildet das Werk in der Drei-Jahres-Abfolge neben Oper und Operette das aktuelle Musicalprojekt in einer Inszenierung, der von vornherein jeder Mief der Entstehungszeit in der Hippie-Ära ausgetrieben wurde.  

Verstörendes Weltbild von brennender Aktualität

Dafür strotzt Barbara Schöne nur so von Einfällen, wie sie die Ereignisse vor zweitausend Jahren in unsere Jetztzeit transferieren kann und ein verstörendes Weltbild von brennender Aktualität zeichnet, ohne dabei der eigentlichen Geschichte ihren ernsten religiösen Grundcharakter zu nehmen. Daran erinnert schon die riesige Dornenkrone, die bedrohlich über dem Geschehen thront. Schöne lässt die Hohepriester, die das Volk gegen Jesus aufhetzen, zwiegesichtig erscheinen. Jeder von ihnen trägt am Hinterkopf eine Pappmaske, die einen der brutalen politischen Diktatoren und Machthaber unserer Zeit darstellt. Aber erst, wenn sie sich umdrehen, zeigen sie ihr „wahres Gesicht“ als aktuelle Feindbilder: Trump, Putin, Nordkoreas Kim Jon-un, Erdogan … Ein toller Einfall! Auch der Versuchung, das Flüchtlingsthema einzubringen, kann sie nicht widerstehen, mit Leuten, die in Schwimmwesten vor blauem Tüll um ihr Leben kämpfen: „Jesus, rette mich!“

Barbara Schöne ist als eine Art weiblicher Wunderwuzzi auch für Bühne und Kostüme zuständig und lässt mit einfachen Mitteln die eigentliche Beengtheit dieses Raumes rasch vergessen. Und so geht es Schlag auf Schlag, in einer dichten Abfolge opulenter Bilder, die keinen Durchhänger zulassen: die Brotbrechung beim Letzten Abendmahl, die Vertreibung der Händler aus dem Tempel, der Verrat durch seinen Gegenspieler Judas im Garten Gethsemane, die Liebe der Prostituierten Maria Magdalena, die von Jesus nicht erwidert wird, die Geißelung. Zu einem parodistisch exzellenten Schmankerl wird die Verhöhnung Jesu als „König der Juden“ durch Herodes, der in einer angedeuteten Hitlermaske als Herrscher lächerlich in einer Badewanne thront und dabei eine militärisch anmutende Girl-Parade abnimmt. Das macht nachdenklich.

Der Tod Jesu live im TV

Dicht und intensiv, unter die Haut gehend schließlich auch der live im TV übertragene Tod Jesu an einem Kreuz, das aus Papierquadern aufgebaut ist mit den Inschriften all jener schlechten Eigenschaften der Menschheit, derentwegen Jesus sich wohl auch heute wieder aufopfern würde: Hass, Zorn, Wut, Rassismus … Die Bilder dazu auf der Vidi-Wall im Hintergrund sprechen Bände und werden dabei immer bedrohlicher: vom Krieg zerstörte Städte, Terror, der New Yorker Anschlag von 9/11 und am Schluss ein riesiges „No!“ Der Chor stellt sich sprachlos dem Publikum. Die Quintessenz: Wir lassen uns den Mund nicht verbieten, stehen ein für Meinungsfreiheit, Toleranz, Emanzipation und Frieden und gegen Atomkraft. Ein starkes Finale, das lange hängen bleibt.

120 Mitwirkende vor, hinter und auf der Bühne sind auch heuer wieder aufgeboten, um dieses für eine Provinzbühne riesenhafte Projekt gemeinsam zu stemmen. Und das geschieht alles in so dichter Abfolge, perfekter Kommunikation und hoher künstlerischer Ausdeutung, dass man sehr bald vergisst, dass es sich dabei in manchen Bereichen auch um Amateure handelt. Meistenteils sind es hoch engagierte Jugendliche wie beim Chor unter der Leitung von Darina Naneva-Ivov, der sich nach einer einfachen Choreographie (wieder Barbara Schöne) auch gut zu bewegen versteht und dazu einen jungen, kräftigen Klang einbringt. Das eigentliche Ballett ist noch jünger, da sind fast noch Kinder dabei, die ihre Sache aber perfekt meistern.

Mit Leidenschaft dirigiert

Damit endlich zur Musik. Nikolaus Netzer, dem man die permanente künstlerische Aufwärtsentwicklung des mtvo in den letzten Jahren zu verdanken hat, stellt die Musik von Webbers Erstling mit seiner unverbrauchten Schöpfungskraft der Melodienerfindung über die aller seiner folgenden Musicals, die oft in seichte Dutzendware ausarteten. Und man spürt, mit welcher Leidenschaft, welchem Feingefühl für Situationen der Dirigent diese Vorgaben nun umsetzt. Er hat dazu nach Webbers Originalarrangement mit ausgesuchten heimischen Profimusikern ein kleineres klassisches Orchester mit sechs Bläsern, elf Streichern und Pauken im Graben versammelt und sie mit einer Rockband mit E-Gitarre, Keyboard, E-Bass und Schlagzeug-Batterie aufgemischt.

Und damit lässt sich mit dem entsprechenden Feeling diese Musik sehr authentisch und packend umsetzen. Das rockt unten und oben auf der Bühne, dass es eine Freude ist, birgt aber auch so wunderbar gespielte, intensive Streicherstellen wie beim Tod Jesu, die einem das Wasser in die Augen treiben. Alles kommt über eine perfekt gemischte und ausgesteuerte Soundanlage, ist angenehm zu hören und nie zu laut. Auch die professionellen Hauptdarsteller und Sänger auf der Bühne haben heuer erstmals Headsets, was die Verständlichkeit ihrer englischen Originaltexte erhöht. Dazu gibt es auch deutsche Übertitel.

Publikumsliebling wird Judas, nicht Jesus

Winner bei den Protagonisten in puncto rotzig frecher Bühnenpräsenz und Publikumsliebling ist nicht etwa Jesus, sondern sein Verräter Judas mit dem aus Italien stammenden Martin Werth, der der Titelfigur mit dieser dankbarsten Rolle streckenweise die Show stiehlt. Der Darsteller des Jesus selbst mit dem in diesem Genre international geschätzten Deutschen Darius Merstein-MacLeod bleibt am Beginn seltsam blass und unverbindlich, bis er zunehmend an Fahrt und Farbe gewinnt und in seinem körperlichen und seelischen Schmerz auch wirklich mit einer zutiefst menschlichen Darstellung zu berühren vermag.

Die weibliche Hauptpartie der Maria Magdalena ist mit der Innsbruckerin Annina Wachter darstellerisch glaubhaft besetzt und besitzt eine warme und ausdrucksvolle Stimme für ihren Hit „I don’t know how to love him“. Der Bregenzer Lukas Diblik kann als brutaler Pontius Pilatus in Lack und Leder punkten, der Tiroler Clemens Kölbl hat als Herodes bei seiner Badewannen-Szene die vordergründigen Lacher auf seiner Seite. Die drei Hohepriester Till Bleckwedel (Kaiphas), Peter Meinhardt (Annas) und Wojciech Latocha (Ananus) sowie Simon Latzer (Simon) und Jakob Rapatz (Petrus) vervollständigen rollendeckend und mit viel Einsatz das Ensemble. Eine besondere Funktion als einer Art „Vox populi“ kommt den drei „Soulgirls“ zu, die mit Monika Bonner, Julia Taschler und Melanie Zünd auch einen lupenreinen Dreigesang abliefern.

„Jesus Christ Superstar“, Rockoper von Andrew Lloyd Webber
Weitere Vorstellungen durch das Musiktheater Vorarlberg:
So, 15., Mi, 18., So, 22. Oktober – 18.00 Uhr; Sa, 21. Oktober – 19.30 Uhr (Götzis, Kulturbühne AmBach)
Di, 24. Oktober – 20.00 Uhr (Lustenau, Kirche St. Peter und Paul)
Dauer: ca. zwei Stunden inklusive Pause