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Wolfram Schurig · 24. Jun 2017 · Musik

Im Bann einer Obsession - Eine Winterreise mit Ian Bostridge und Julius Drake bei der Schubertiade in Schwarzenberg

Beim Liederabend mit dem Britischen Tenor Ian Bostridge, am Klavier begleitet von Julius Drake, wurde das Publikum nicht nur Zeuge eines außerordentlichen Konzertereignisses.

Beeindruckender Spannungsbogen

Kaum ein Sänger der Gegenwart dürfte sich intensiver mit Schuberts Winterreise-Zyklus beschäftigt haben als Ian Bostridge und dies nicht nur als Interpret und Musiker, sondern auch in schriftstellerischer Annäherung in seinem Buch „Schubert's Winter Journey: Anatomy of an Obsession“; eine Auseinandersetzung, die auch umfangreich medial dokumentiert und beispielsweise auf DVD zugänglich ist. Diese inhaltliche Vertiefung mit der Materie und eine beeindruckende Zahl an Aufführungen von Schuberts Winterreise führen wohl dazu, dass Bostridge die Lieder dieses Zyklus nicht nur kennt wie die eigene Westentasche, sondern sie in einem Ausmaß verinnerlicht hat, dass man nicht einfach von einer Werkinterpretation sprechen kann. Bereits bevor der erste Ton gesungen wird, scheint klar: hier wird nicht einfach eine imaginäre Reise dargestellt, dieser Sänger IST der winterliche Wanderer, der die Zuhörer an der Hand nimmt und in die Abgründe der Schubertschen Musik blicken lässt. Dieses Ausmaß an Identifikation erzeugt eine derartige atmosphärische Dichte, dass die Spannung trotz neunzig-minütiger Konzentration selbst durch den Schlussapplaus noch nicht abreißt: erstaunlich!

Kluge Dramaturgie

Ein entscheidendes Kriterium für das Gelingen der Gesamtaufführung eines derart langen Liederzyklus, wie ihn Schuberts Winterreise darstellt, ist auch ein tragfähiges dramaturgisches Konzept. Hier spielt Bostridge seine gesamte Erfahrung aus: einige Nummern folgen ohne Pause aufeinander und bilden Gruppen aus bis zu vier Liedern, während anderen ihr eigener Raum gewährt wird. So entsteht eine übergeordnete formale Struktur, die die vierundzwanzig Lieder zusammenhält und in der sowohl den Einzelstücken wie auch den Gruppen spezifische Funktionen zufallen, etwa dem eröffnenden „Gute Nacht“ die eines Präludiums; die nachfolgende Dreiergruppe, bestehend aus „Die Wetterfahne“, „Gefrorne Tränen“ und „Erstarrung“, bildet eine Einheit in der gewissermaßen die musikalisch-inhaltlichen Grundkoordinaten für die beginnende Reise definiert werden; „Der Lindenbaum“ – wieder allein stehend - bildet einen ersten Ruhepol vor den nachfolgenden, stark bewegten, Stücken usw.

Enorme Ausdruckspalette

Dass man der Abgründigkeit der Musik Schuberts, die hierin ganz der literarischen Vorlage Wilhelm Müllers folgt, nicht allein mit Schöngesang beikommt, leuchtet jedem ein. Das stimmliche Ausdrucksspektrum, das Ian Bostridge dem Publikum in Schwarzenberg offenbarte und das auch vor Extremen nicht zurückschreckte, war dennoch beispielgebend. Es dürfte wohl wenige Sänger geben, die nicht nur den Mut besitzen, sondern auch über die technische und interpretatorische Souveränität verfügen, um selbst subtile Intonationstrübungen als Gestaltungsmittel einzusetzen, ohne sich damit der Gefahr eines Missverständnisses auszusetzten. Julius Drake am Klavier war über weite Strecken ein souveräner Partner, wenn man sich auch anfangs etwas mehr Initiative gewünscht hätte. Spätestens aber mit „Die Krähe“ im zweiten Abschnitt gelang es Drake, reizvolle pianistische Akzente zu setzten und dem Klavierpart jene Präsenz zu verschaffen, die ihm zusteht. Ein Liederabend der Extraklasse.